Tove Ditlevsens "Kopenhagen-Trilogie":Der Rhythmus der Straße

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"Schreiben heißt, sich selbst auszuliefern": die dänische Schriftstellerin Tove Ditlevsen (1917-1976) in einer Aufnahme von 1945. (Foto: Ritzaus Bureau/Scanpix/picture alliance)

Jahrzehnte vor Annie Ernaux und Rachel Cusk schrieb die dänische Autorin Tove Ditlevsen autofiktionale Romane über ihre Jugend im Arbeiterviertel. Endlich erscheint ihre "Kopenhagen-Trilogie" auch auf Deutsch.

Von Sophie Wennerscheid

Die Istedgade ist eine der lebhaftesten Straßen Kopenhagens. Während es die Touristen vom Hauptbahnhof aus Richtung Tivoli und zur Schlendermeile Strøget zieht, führt die Istedgade den Besucher in das hinter dem Bahnhof gelegene Stadtviertel Vesterbro. Hier liegen Asia-Supermärkte, Ökobäckereien, diverse Take-Aways, Striptease Clubs und schicke Läden mit skandinavischem Design in bunter Vielfalt nebeneinander. Vor rund 100 Jahren, als es auf der Istedgade weder Designerläden noch Ökobäcker gab, wohl aber "Frauen, die es für Geld machen" und Geschäfte, in denen "ein Pfund Pferdefleisch 58 Öre" kostete, wuchs hier die dänische Autorin Tove Ditlevsen auf. Mit ihrem stark autobiografisch inspirierten Werk hat sie seitdem immer wieder neu Generationen von Leserinnen und Lesern begeistert.

So wie die meisten Menschen im Vesterbro der Zwischenkriegszeit lebte Tove Ditlevsen als Kind und Jugendliche in kargen Verhältnissen. Die Arbeitslosigkeit unter den Männern war hoch, und viele der Frauen waren von einem Leben ohne Perspektive bitter geworden. Man jagte die Kinder aus den kleinen Wohnungen zum Spielen auf den Hof, wo sie auf den Mülltonnen hockten und sich hinter vorgehaltener Hand in die Geheimnisse des Sexuallebens einweihten.

Draußen auf der Straße geht es derber zu. Hier knallen in regelmäßigen Abständen betrunkene Männer mit dem Kopf aufs Pflaster, und die Kinder sehen, wie sich "Locken-Charles dampfende Pferdeäpfel in den Mund stopft". Der Rhythmus der Istedgade, so erklärt Ditlevsen es in dem Erinnerungsbuch "Kindheit", das jetzt zusammen mit den Bänden "Jugend" und "Abhängigkeit" vom Aufbau Verlag als "Kopenhagener Trilogie" herausgebracht wird, würde für immer in ihrem Blut pulsieren. Es ist ein Rhythmus mit einem düsteren Grundbeat und starken, unregelmäßig gesetzten Akzenten. Dabei auf schlichte Art poetisch und voller Schalk, so wie man es aus Irmgard Keuns "Das kunstseidene Mädchen" kennt.

Die Texte gehen unter die Haut, ohne sentimental zu sein

Obwohl Ditlevsen in Dänemark eine Berühmtheit ist, harrt sie in Deutschland noch ihrer Entdeckung. 1952 erschien der frühe Roman "Straße der Kindheit" bei der Büchergilde Gutenberg und in den Achtzigerjahren gab der Suhrkamp Verlag drei weitere Bücher von ihr heraus. Keines ist mehr erhältlich. Erst jetzt, in einer Zeit, in der autobiografisches Schreiben von Frauen wieder neue Aufmerksamkeit erfährt, haben Tove Ditlevsens Texte eine echte Chance. Und die haben sie verdient.

Es sind Texte, die in ihrer ungeschönten, treffsicheren Art unter die Haut gehen, ohne auch nur ansatzweise sentimental zu sein. Unmerklich zwischen Gegenwart und Vergangenheitsform wechselnd, ziehen sie uns in das Leben einer jungen Frau, die im Grunde nur eines will: schreiben. Ach ja, und ein Kind. Wenn es nicht anders geht, dann eben mit dem von der Mutter gewünschten soliden Handwerker, der nicht arbeitslos wird wie der Vater. Außerdem Liebe, Anerkennung, Erfolg, Geld. Eigentlich doch eine ganze Reihe von starken Wünschen. Hinter allem aber steht der Drang, Autorin zu sein.

Lesend daran teilzunehmen, wie sich dieses Begehren realisiert, obwohl die Lage wegen der niederen Herkunft der Erzählerin nicht eben aussichtsreich erscheint, macht einen wesentlichen Reiz der Lektüre aus. Vor allem deshalb, weil bei aller Gradlinigkeit des Erzählens viele interessante Leerstellen bleiben. Die Anlage der Figuren ist eher skizzenhaft.

Sie tauchen auf und verschwinden wieder. Einige sterben, andere laufen davon, und wieder andere werden von der Erzählerin direktermaßen abserviert. Nicht herzlos, aber im wörtlichen Sinne rücksichtslos. Weil im Leben immer jeder irgendetwas von dem anderen will. Wenn das nicht eingelöst wird, oder sich die Bedürfnisse verschieben, dann zieht man weiter.

Ihre Mutter hat schwanger Seife gegessen, um sie loszuwerden

Anders als bei den literarischen Selbsterkundungen einer Annie Ernaux gibt es in den Erinnerungsbüchern der dänischen Autorin keine reflexive Metaebene und keine zur vertiefenden Interpretation einladenden intertextuellen Querverweise. Das Private ist natürlich politisch, wird aber weder so benannt noch so empfunden. Die Not einer jungen Frau, die ungewollt schwanger geworden ist, ist die Not einer jungen Frau, die ungewollt schwanger geworden ist und jetzt panisch nach einem Arzt sucht, der bereit ist, eine Abtreibung vorzunehmen. Punkt.

Nicht ganz so einfach auf den Punkt zu bringen ist das Verhältnis der Erzählerin zu ihrer Mutter. Die kleine Tove sucht nach Liebe, die große scheint sich damit abgefunden zu haben, dass sie sie nicht bekommt: "Ich spreche mit ihr über Geburten, und sie erzählt, Edvin und ich wären in einer Wolke aus Seifenblasen auf die Welt gekommen, weil sie grüne Seife gegessen hätte, um uns loszuwerden. 'Ich habe mir nie etwas aus Kindern gemacht', sagt sie."

Die Mutter der literarischen Tove ist weit von der Grausamkeit entfernt, die die Mutter in Angelika Klüssendorfs Roman "Das Mädchen" auszeichnet, aber eine gewisse Ähnlichkeit gibt es doch. Beide Mütter zwingen ihre Töchter weg von sich und hin zu dem, was ihnen niemand nehmen kann: die Literatur. Auch von der Gesamtanlage her gibt es eine interessante Nähe zwischen Ditlevsens und Klüssendorfs Entwicklungs- und Künstlerinnen-Trilogie. Bei beiden sind die zwei ersten Bände aus der Perspektive des Kindes bzw. des jungen Mädchens geschrieben, während Band drei sich den Abgründen der Ehejahre widmet.

Die Ehe gibt der Erzählerin ein Gefühl bürgerlicher Geborgenheit

Allerdings ist es bei Ditlevsen nicht die eine Ehe, die es zu verarbeiten gilt, sondern es sind ihrer gleich vier. Die erste Ehe geht die knapp 20-jährige Tove mit dem Redakteur der Literaturzeitschrift Wilder Weizen ein. Als sie ihn das erste Mal sieht, findet sie ihn schön. Dass er 30 Jahre älter ist als sie, spielt keine Rolle. Er hat ihr erstes Gedicht veröffentlicht, und sie ist überglücklich. Nach der Heirat aber starrt sie "auf sein Doppelkinn, das über den Eckkragen quillt und immer leicht vibriert" und freut sich, wenn die Tür hinter ihm ins Schloss fällt.

Nach der Scheidung fühlt sie sich wie ein herrenloser Hund und verliebt sich schnell in den ewigen Studenten Ebbe. Sie heiraten und bekommen ein Kind. Tove ist froh, die Ehe gibt ihr das Gefühl von bürgerlicher Geborgenheit. "Warum möchtest du eigentlich so gern normal und gewöhnlich sein?', fragt Ebbe verwundert. 'Es ist doch ganz eindeutig, dass du es nicht bist.' Darauf kann ich ihm auch keine Antwort geben, aber ich habe es mir gewünscht, solange ich denken kann."

Der Wunsch nach Normalität mag stark sein, belastbar ist er nicht. Als es zu einer weiteren Schwangerschaft kommt und der Arzt, der die Abtreibung vornimmt, und möglicherweise der Vater des Kindes ist, der jungen Frau eine Spritze mit dem morphinähnlichen Schmerzmittel Pethidin gibt, öffnet sich ihr eine neue Welt. "Während die Flüssigkeit aus der Spritze in meinem Arm verschwindet, breitet sich eine nie gekannte Seligkeit in meinem ganzen Körper aus." Um das Glück des Rausches zu sichern, trennt Tove sich von Ebbe und wechselt auf die Seite des Arztes, den sie bald schon heiratet.

Ihre schönsten Bücher schrieb Ditlevsen in der Klinik

Wenige Jahre später ist sie geistig wie körperlich ein Wrack. Bis auf 35 Kilo abgemagert wird sie in letzter Minute in eine Klinik gebracht, ihren dritten Ehemann wird sie nie wiedersehen. Die letzte und vierte Ehe verläuft zunächst ruhiger, hält aber den Rückfällen in die Abhängigkeit nicht stand. Immer wieder kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen, Drogenmissbrauch und Klinikaufenthalten. Paradoxerweise geben gerade die der Autorin den Halt und die Ruhe, die sie draußen nicht findet. In der Klinik schreibt sie 1967 "Kindheit" und "Jugend", zwei ihrer schönsten Bücher, und 1971 "Abhängigkeit", vielleicht ihr stärkstes Buch.

Tove Ditlevsen: Kindheit. Roman. Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein. Aufbau Verlag, Berlin 2021. 118 Seiten, 18 Euro. (Foto: Aufbau Verlag)

Dabei ist es nicht nur die unprätentiöse Schonungslosigkeit, mit der Ditlevsen ihre eigenen Untiefen ausleuchtet, die die Trilogie so besonders macht, sondern vor allem die sprachliche Präzision, mit der sie das tut. Dass man das nicht sofort beim ersten Lesen merkt, verdankt sich dem literarischen Sog der Bücher, hat aber auch etwas mit der deutschen Übersetzung zu tun. Die ist nämlich nicht so gestochen scharf, wie man es sich für diese Einführung eines dänischen Klassikers auf den deutschsprachigen Buchmarkt gewünscht hätte.

Vor allem im zweiten Band haben sich einige gewundene Formulierungen eingeschlichen, die es so im sprachlich verknappten Original nicht gibt. Wenn hier das "sagte er süß" eines kleinen Jungen als "flötete er liebreizend" übersetzt wird, und aus dem "feuerrot gewordenen Kopf" der jungen Tove, die sich erstmals als Dienstmädchen verdingt hat, ein "trieb mir die Schamesröte ins Gesicht" wird, dann ist das nachhaltig ärgerlich, weil es den Schwung aus der Szene nimmt. Gut also, dass die Kopenhagener Trilogie davon so reichlich hat. Tove Ditlevsens Werk wird seinen Weg auch ins Herz des deutschsprachigen Lesepublikums finden.

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