In Paul Verhoevens Film "Elle" spielt Isabelle Huppert eine Frau, die vergewaltigt wird. Es ist eine mit großer Kälte gefilmte Szene, aber am schwersten erträglich ist Hupperts Reaktion: Sie fegt die Scherben zusammen, duscht und bestellt Sushi. Lange Zeit erzählt sie niemanden etwas, dann - sehr distanziert, sehr nebenbei - ihren engsten Freunden. Mehr noch: Sie enttarnt den Täter, einen Nachbarn, scheint ihn aber zu einem weiteren Missbrauch geradezu einzuladen. Während er ihr erneut Gewalt antut, ist nie ausgeschlossen, dass es einvernehmlich geschieht, ja, dass sie Lust verspürt.
Der Film ist eine Zumutung, vor allem, weil er sich dank Isabelle Huppert nicht als schlichte Männerfantasie abtun lässt. Er zeigt eine Frau, die gleichzeitig herrscht und beherrscht wird, und einen Täter als Werkzeug. "Elle" führt mit einer Unerschrockenheit in die Widersprüche und Abgründe des Menschen, wie nur die Kunst es kann.
Übergriffe in Hollywood:Kevin-Spacey-Filme auszusortieren ist auch keine Lösung
Wie soll man umgehen mit Schauspielern, denen sexuelle Belästigung vorgeworfen wird? Ein erster Schritt wäre, zwischen Kunstwerk und Künstler zu unterscheiden.
Der Film wurde gelobt und gefeiert, aber das war in der Zeit vor den Enthüllungen um Weinstein, Spacey, Hoffman, vor der Internet-Kampagne #MeToo. Und ehe man tiefer in die Konsequenzen der aktuellen Debatte über sexuellen Missbrauch einsteigt, sei ein Moment dem Gedanken geschenkt, ob ein so angreifbarer Film heute noch eine Chance hätte. Denn während täglich neue Übergriffe ans Licht kommen, beim Film, in der Politik, während sämtliche Branchen mit drastischem Machtgefälle, also so gut wie alle Bereiche des Arbeitslebens, auch die Medien, zur Selbstbefragung aufgefordert sind, während einige notorische Vergewaltiger und Grapscher bloßgestellt wurden und andere es in nächster Zeit gewiss werden, während es also über die Debatte der vergangenen vier Wochen viel Gutes zu sagen gibt, sollte man die Risiken nicht verschweigen - gerade im Interesse der Frauen.
Über die Debatte der vergangenen vier Wochen gibt es viel Gutes zu sagen. Die Risiken sollte man im Interesse der Frauen nicht verschweigen
Vieles, was Frauen und manche Männer in Hollywood oder unter dem Stichwort #MeToo im Internet schreiben, ist entsetzlich, es nach Jahren oder Jahrzehnten öffentlich zu machen, eine späte Befreiung und auch der Versuch, über die Verständigung mit anderen eine Solidarität zu erleben, deren Mangel zum Quälenden der damaligen Situation beigetragen hat. Vergewaltigungen, der Missbrauch von Minderjährigen, sexuelle Übergriffe als Folge von Abhängigkeitsverhältnissen sind klare Rechtsverstöße. Soeben hat Scotland Yard Ermittlungen gegen Kevin Spacey aufgenommen, der als künstlerischer Leiter des Old Vic einen anderen Mann sexuell angegriffen haben soll.
Aber was ist mit Zoten oder schlichten Geschmacklosigkeiten? Wenn Dustin Hoffman in Anwesenheit einer Praktikantin das Wort "Brust" gebraucht, ist das ein himmelweiter Unterschied zum erzwungenen Geschlechtsverkehr auf der Besetzungscouch des Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein. Zote und Vergewaltigung in einem Atemzug zu nennen, verniedlicht Vergewaltigungen.
Es liegt in der Dynamik solcher Enthüllungs- und Bekenntnisschübe zumal in Zeiten von Facebook und Twitter, dass sie sich nicht um juristische Standards scheren. Und doch stellt sich inzwischen ein Unbehagen über die Unbarmherzigkeit des Verfahrens ein. Die Beschuldigten sind sozial, politisch - inzwischen auch: künstlerisch - erledigt, ohne Verfahren, ohne Verteidigung. Ihr Vergehen mag Jahre zurückliegen, aber anders als fast jede andere Tat verjährt es nie. Die Schattenseiten der Kampagne sind Willkür, Denunziation, Mob.
Würde man heutigen Mädchengenerationen nicht ein wehrhafteres, unabhängigeres Frauenbild wünschen?
Dass in der #MeToo-Kampagne viele Beschuldigungen ohne Adressaten, ohne den Namen des Täters vorgebracht werden, macht es, umgekehrt, nicht besser. Wie jede vage Anschuldigung senkt auch dies die Hemmschwelle derjenigen, die sie hervorbringen, sie erlaubt keine Nachfrage, vor allem aber: Diejenigen, die anderen Gewalt angetan haben, können sich in Sicherheit wiegen, während alle anderen Männer sich über den Generalverdacht gegenüber ihrem Geschlecht empören.
Noch bedenklicher aber ist etwas anderes: Von den massenhaften Beschreibungen in aller Regel eben doch meist weiblicher Ohnmacht und weiblicher Erniedrigungen geht eine problematische, wenn auch unbeabsichtigte Botschaft aus: Frauen, so scheint es, sind nur in Ausnahmefällen in der Lage, sich zu wehren. Sie sind ausgeliefert, hilflos, schützenswert. Würde man heutigen Mädchen nicht ein wehrhafteres, unabhängigeres Frauenbild wünschen?
Keine Frage, das Verhältnis zwischen Männern und Frauen ist nicht so, wie es sein sollte. Aber das war es noch nie. Was vor 30 Jahren als Kavaliersdelikt galt - und in anderen Kulturen immer noch als solches gilt -, kann heute in einer westlichen Gesellschaft das Karriereende bedeuten. Dieser Konsens musste und muss erstritten werden.
Umso befremdlicher sind manche Beiträge, die klingen, als sei bereits die Auseinandersetzung selbst unerträglich, als gäbe es das soziale Ideal eines harmonischen Miteinanders, das unbedingt anzustreben und durchaus zu erreichen sei. Dies aber widerspräche nicht nur jeder Erfahrung, es wäre gar nicht wünschenswert.
Dabei geht es weniger um die Männer, die gerade über eine angeblich so überwältigende Unsicherheit klagen. All die verschwiegenen Komplimente! Wer traut sich denn da noch, etwas Nettes zu sagen? Für sie hier ein schlichter Hinweis: Wer sich als Mann gegenüber einer Frau so benimmt, wie er es seiner Schwester - seiner Tochter, seiner Frau, seiner Mutter - gegenüber für angemessen hält, der liegt wahrscheinlich meist nicht grob daneben. Das lässt Raum für Unklarheiten und Ambivalenzen, die aus dem Verhältnis der Geschlechter zu tilgen sich nur jene wünschen, die den unkontrollierten Kontakt von Männern und Frauen ganz generell nicht für wünschenswert halten - und das sind selten die Freunde der Frauen.
Es ist ein interessanter Zufall, dass manche Forderungen nach einer Art finaler Klärung der Geschlechterverhältnisse in eine Zeit fällt, in der sich die Geschlechter selbst gar nicht mehr eindeutig klären lassen. Wer ist Mann, wer Frau? Wer etwas anderes? Die Kunst schlägt Funken aus dieser neuen fluiden Welt. Es wäre schade, wenn wir die alte zu sauber aufräumen würden.