Marlee Matlin im Porträt:Gebärdensprache in Hollywood

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Marlee Matlin vor ihrem Zuhause in La Canada Flintridge, Kalifornien. (Foto: Chris Pizzello/AP)

Oscarpreisträgerin Marlee Matlin über ihre Arbeit als gehörlose Schauspielerin und ihre Traumrolle in der Tragikomödie "Coda".

Von Annett Scheffel

Marlee Matlin tastet mit wachem, neugierigem Blick ihr Gegenüber auf dem Computerbildschirm ab, als suche sie nach einem wichtigen Anhaltspunkt auf der anderen Seite der Videoschaltung. Und wie um daran zu erinnern, mit wem man es zu tun hat, folgt ihr eigener Hintergrund einer gewohnten Inszenierung. Zu Hause in Los Angeles gibt die 55-jährige Amerikanerin das Interview in einem nüchternen Arbeitszimmer: Hinter ihr stehen aufgereiht ein gelber Blumenstrauß, gerahmte Familienfotos und das funkelnde, goldene Männchen, das sie mit 21 Jahren auf einen Schlag berühmt machte: ihr Oscar.

Matlin ist Hollywoods bekannteste und erfolgreichste gehörlose Schauspielerin. Und bis heute ist sie die einzige gehörlose Hauptdarstellerin mit einem Oscar, den sie für ihre Rolle im Liebesdrama "Gottes vergessene Kinder" (1986) gewann. Mittlerweile blickt sie auf eine lange Karriere zurück. Matlin hat immer gearbeitet, auch viel fürs Fernsehen ("Law and Order", "Seinfeld", "The L Word" "Quantico"). Als Gesicht der Gehörlosen-Community setzt sie sich seit Jahrzehnten gegen begrenzte Rollenangebote und für mehr Sichtbarkeit ein. Denn die gängige Meinung in Hollywood, dass es für gehörlose Schauspieler und Schauspielerinnen kaum Rollen gebe, hat sich trotz ihres Oscar-Gewinns nur schleichend geändert.

"Zum ersten Mal musste ich mir am Set keine Sorgen um Barrieren machen."

Auch deswegen, sagt Matlin, sei sie wegen eines neuen Films schon lange nicht mehr so aufgeregt gewesen wie im Fall von "Coda". Das Filmdrama von Regisseurin Siân Heder gewann Anfang des Jahres beim Filmfestival in Sundance zwei Preise und ist ab 13. August beim Streamingdienst Apple TV+ zu sehen. "Ich habe schon so viele unterschiedliche Sachen gemacht, von Independent-Kino bis Reality-TV", sagt Matlin, und ein zugeschalteter Dolmetscher mit freundlicher, tiefer Stimme übersetzt die Gebärdensprache, in der sie mit schnellen und kraftvollen Gesten und Mienen erzählt: "Aber zum ersten Mal seit 35 Jahren war ich als Schauspielerin in 'Coda' komplett in meinem Element: als gehörlose Schauspielerin, als Schauspielerin, die in ihrer Hauptsprache, der Gebärdensprache, spielen kann, und als Teil eines ebenfalls größtenteils gehörlosen Casts. Zum ersten Mal musste ich mir am Set keine Sorgen um die Kommunikation und mögliche Barrieren machen. Keine Rolle ist bisher so befreiend für mich gewesen."

Marlee Matlin (Zweite von rechts) in "Coda". (Foto: AP)

"Coda" ist ein Remake des französischen Kino-Hits "Verstehen Sie die Béliers?" von 2014. Die Regisseurin hat die Handlung von der französischen Provinz an die amerikanische Ostküste verlegt. Hier lebt die gehörlose Familie Rossi, die sich mit ihrem Fischereigeschäft knapp über Wasser hält und deren einzige hörende Tochter hin- und hergerissen ist zwischen dem Verantwortungsgefühl für ihre Eltern und dem Traum von einer Gesangskarriere. Der Filmtitel "Coda" ist die offizielle Abkürzung für "Child of deaf adults" - Kind von Gehörlosen.

Marlee Matlin und Troy Kotsur spielen die Eltern, Daniel Durant den Sohn. Alle drei sind gehörlos. Ein wesentlicher Unterschied zum komödiantischen Original, in dem die meisten der gehörlosen Figuren von hörenden Darstellern verkörpert wurden. Und ein Großteil der Dialoge funktioniert mit lebendig inszenierter Gebärdensprache. Eine Verkehrung der Verhältnisse: Die Gehörlosen-Community versteht alles ohne Untertitel; die Hörenden müssen in den Familienszenen, in denen manchmal minutenlang kein einziges gesprochenes Wort fällt, mitlesen.

"Sie macht das schon so lange und ist so talentiert", sagt Regisseurin Heder über die Arbeit mit Matlin. "Aber ihre Möglichkeiten sind immer begrenzt gewesen. Meistens ist sie die einzige gehörlose Darstellerin am Set. Diesmal hatte sie die Freiheit, mit den anderen Schauspielern zu improvisieren." Am schönsten sieht man das im Film in einer Szene während eines Schulkonzerts. Die Eltern sitzen gelangweilt in ihrer Schulreihe und diskutieren das Abendessen: "Vielleicht Spaghetti?"

Bei einer gehörlosen Familie würde das Sofa nie mit dem Rücken zur Tür stehen

Matlin sagt nicht "Herzensangelegenheit", wenn sie über "Coda" spricht, sie sagt "Obsession". Sehr früh ist sie in die Entstehung des Filmprojekts eingebunden gewesen und hat für Casting und Set-Bedingungen zusammen mit Heder lange auf Produzenten und Geldgeber eingeredet. Vom ersten Treffen mit der Regisseurin in einem Restaurant erzählt sie als "kurzem Meeting, aus dem ein dreistündiges Gespräch wurde - und unser Essen kalt". Was sie an Heders Drehbuch von Anfang an fasziniert habe, seien vor allem zwei Sachen gewesen: "Auf der einen Seite hat sie alles gesagt, was ich mir zu hören wünschte: Authentizität, Inklusivität, Barrierefreiheit. Und trotzdem ist die Geschichte, die sie geschrieben hat, die Geschichte einer ganz normalen Familie. Keine armen Opfer, die ausgestellt werden und mit denen man Mitleid hat. Ihre Probleme und ihr Alltag unterscheiden sich erst einmal gar nicht so sehr von anderen Familien. Nur dass sie abends am Esstisch keine gesprochene, sondern Gebärdensprache benutzen. Und dass deswegen ein paar Dinge anders ablaufen. Das Wesentliche aber nicht." Matlin ist selbst Mutter von vier Kindern. Sie weiß, wovon sie redet. Auch wenn, wie sie lachend einwirft, ihr Erziehungsstil ein ganz anderer sei als der in ihrer Rolle.

Der Kniff von "Coda": Der Film erzählt seine Geschichte in Narrativen, die das breite Publikum kennt und liebt - Highschool-Komödie, Sozialdrama, Musikfilm, Coming-of-Age -, und trägt so zu einer Normalisierung der Lebensrealität von gehörlosen Menschen bei. Allzu oft kommt das Thema in Filmen ja immer noch nicht vor. Und wenn dann eher als Horrorgeschichte ("A Quiet Place"). Oder mit hörenden Darstellern besetzt wie bei den "Béliers". Ausnahmen bilden Caroline Links "Jenseits der Stille" (1996), zuletzt auch das Independent-Drama "Sound of Metal", das von einem Schlagzeuger erzählt, der sein Gehör verliert. "Coda" ist in der Darstellung der Besonderheiten der Gehörlosen-Kultur vielleicht am genausten, so wie der Film die ganze physische Wucht und Direktheit der Gebärdensprache in präzisen Dialogszenen einfängt.

"Coda" bei Apple TV+
:Gesten des Lebens

Die amerikanische Tragikomödie "Coda" erzählt von einem hörenden Mädchen und ihrer gehörlosen Familie.

Von Anke Sterneborg

Wenn Marlee Matlin über den Film spricht, dann kommt sie immer wieder auf die Dreharbeiten zurück: "Das mag vielleicht komisch klingen, aber ich hatte zum ersten Mal wirklich das Gefühl, dass ich von der Regie angeleitet wurde. Siân hat Gebärdensprache gelernt und direkt mit uns kommuniziert - nicht immer nur über Gebärdensprachdolmetscher. Und sie hat vor allem viel gefragt. Üblicherweise denken die Regisseure sonst eher: 'Ach, sie wird schon wissen, was ich meine.'"

Die gehörlosen Charaktere auch tatsächlich mit gehörlosen Darstellern zu besetzen, ist für "Coda" in vielerlei Hinsicht ein Gewinn gewesen. "Es gibt so viel Details, die sie ohne uns gar nicht authentisch hinbekommen hätten", erinnert sich Matlin. "Wir kamen am Set an, und dann musste gleich das Familienwohnzimmer umgeräumt werden. Es stimmte einfach nicht. Bei einer gehörlosen Familie würde das Sofa zum Beispiel nie mit dem Rücken zur Tür stehen. Man würde auch nie im Gegenlicht eines Fensters miteinander sprechen. Gebärdensprache funktioniert nicht, wenn man nur Silhouetten sieht. Siân hat gut zugehört und keinen Moment gezögert, alles noch mal umzustellen." Marlee Matlin lacht. Für einen kurzen Moment habe sie sich ein bisschen wie eine Matriarchin mit überkritischen Einrichtungsvorstellungen gefühlt. Aber für die angestrebte Authentizität müsse man manchmal eben auch Möbel verrücken.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels haben wir "Zeichensprache" statt "Gebärdensprache" verwendet, was nicht korrekt ist.

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