"Coda" bei Apple TV+:Gesten des Lebens

"Coda" bei Apple TV+: Emilia Jones in "Coda".

Emilia Jones in "Coda".

(Foto: Apple)

Die amerikanische Tragikomödie "Coda" erzählt von einem hörenden Mädchen und ihrer gehörlosen Familie.

Von Anke Sterneborg

"Wie fühlst du dich, wenn du singst?", fragt der Chorleiter in der Schule, und Ruby druckst herum, tut sich schwer mit der Antwort, vor allem vor den anderen Schülern. "Versuch es", insistiert der Lehrer, und ganz langsam beginnt Ruby dieses Gefühl zu beschreiben, nicht mit gesprochenen Worten, sondern in Gebärdensprache, in der sie ganz anders, mit dem Einsatz der Hände und des ganzen Körpers, von der Befreiung, der Euphorie und der Leichtigkeit erzählen kann, die sie beim Singen erlebt.

Die Gebärdensprache beherrscht Ruby, weil sie "Coda" ist, Child of Deaf Adults, das einzige hörende und sprechende Mitglied ihrer Familie. Die Szene zeigt, wie unzulänglich Worte sein können, danach möchte man Gebärdensprache eigentlich sofort zum Pflichtschulfach erklären. Viel mehr als andere Filme über Gehörlose vermittelt "Coda" immer wieder, dass Taubheit nicht nur ein Makel, sondern auch eine Chance sein kann. Das wird auch Emilia Jones, die für die Rolle der Ruby in neun Monaten die Gebärdensprache erlernt hat, auf ihrem weiteren Weg als Schauspielerin spüren. Im Kino ist es ja ohnehin ein Vorteil, vor allem auf die Möglichkeiten der visuellen Kommunikation zu setzen.

Schon das allererste Bild des Films, ein schmaler Streifen Blau, eingeklemmt zwischen dem dunklen Meer und dem schweren Wolkengrau des Himmels darüber, ist ein kraftvolles Bild für Rubys schwierige Lage zwischen der Verantwortung für die Eltern und den eigenen Vorstellungen von einer unabhängigen Zukunft. Was die Regisseurin Sian Heder mit ihren tollen Darstellern und ihrem Gespür fürs Blue-Collar-Milieu der Fischer erschaffen hat, ist viel mehr als das vergleichsweise simpel gestrickte französische Original "Verstehen Sie die Béliers" (2014), auf dem dieser Film beruht.

Um den Vater zu ärgern, behauptet das Mädchen, sein Arzt rate zu lebenslanger Abstinenz

Das hat nicht nur, aber auch damit zu tun, dass die Gehörlosen jetzt nicht mehr von hörenden Schauspielern nachgeahmt werden, sondern sie sich selber spielen, allen voran Marlee Matlin, die 1987 schon mit dem Oscar für "Gottes vergessene Kinder" ausgezeichnet wurde.

Vieles setzt Ruby zu: die Doppelbelastung von frühmorgendlicher Fischerei und Schule, in der sie dann oft einschläft. Die Mitschüler, die sie wegen des Fischgeruchs und ihrer Familie hänseln. Die peinlichen Situationen, in die vor allem ihre Eltern sie immer wieder bringen. Dazu kommt noch die Existenzangst, weil die Fischer für ihren Fang nur einen Bruchteil des später bei den Auktionen erwirtschafteten Gewinns bekommen. Ruby steht unter Druck, aber sie ist auch eigensinnig und wütend, wehrhaft und stark.

Das Glück des Singens im Chor und eine zarte Liebesgeschichte mit ihrem Duett-Partner eröffnen Ruby einen Weg, den die gehörlosen Eltern nicht nachvollziehen können. "Wenn ich blind wäre, würdest du dann malen wollen?", fragt die Mutter vorwurfsvoll. Zum Konzert in die Schule kommen sie selbstverständlich, wie alle stolzen Eltern. Doch mitten im Zuschauerraum sind sie abgeschnitten. Auf unterschiedliche Weise suchen Vater, Mutter und Bruder nach Orientierung, in der Haltung von Ruby auf der Bühne und in den Reaktionen der hörenden Zuschauer.

Die Familie ist die schützende Blase, in der sich die Eltern gut eingerichtet und gegen die Außenwelt abgeschottet haben. Alle Eltern müssen irgendwann loslassen lernen, doch für Frank und Jackie ist das besonders schwer, weil sie abhängig sind von Ruby als Brücke zu den Hörenden und Sprechenden. Nach dem Konzert bleiben Vater und Tochter noch an den Truck gelehnt vor dem Haus stehen, und er bittet sie, das Lied für ihn noch einmal zu singen. Mit den Händen an ihrem Hals erspürt er die Stimmbänder, Arterien und Muskeln und damit ihren Aufruhr der Gefühle und versteht plötzlich.

"Coda" ist die Geschichte eines Coming of Age unter extremen Bedingungen, in dem sehr komische und tief berührende Momente eng miteinander verzahnt sind. Zum Beispiel wenn der Vater (Troy Kotsur) beim Hautarzt mit sehr plastisch deftigen und darum für seine Tochter ziemlich peinlichen Handbewegungen vermittelt, wie unangenehm sich die Juckerei im Genitalbereich anfühlt und sie sich damit rächt, dass sie aus den vom Arzt verschriebenen zwei Wochen Abstinenz lebenslange Entsagung macht.

USA 2021, Buch und Regie: Sian Heder. Kamera: Paula Huidobro. Mit: Emilia Jones, Marlee Matlin, Troy Kotsur, Daniel Durant. 111 Minuten, Apple TV+ ab 13. August.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels haben wir "Zeichensprache" statt "Gebärdensprache" verwendet, was nicht korrekt ist, und "taubstumm" statt "gehörlos".

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