Favoriten der Woche:Charme und Unverfrorenheit

Lesezeit: 4 min

Bienvenue à Paris: Chilly Gonzales ist vom Rhein an die Seine gezogen. (Foto: JOEL SAGET/AFP)

Chilly Gonzales macht nun in Chansons, Liam Neeson als Marlowe merkt sofort, wenn eine Frau Joyce zitiert. Fünf Empfehlungen aus der SZ-Redaktion.

Von Moritz Baumstieger, Aurelie von Blazekovic, Fritz Göttler, Helmut Mauró und Egbert Tholl

Reisende soll man nicht aufhalten: "French Kiss" von Chilly Gonzales

Letztlich kann die Welt froh sein, dass Chilly Gonzales in den Jahren, in denen er seinen Hauptwohnsitz in Köln hatte, gut ausgelastet war: Gonzales veröffentlichte Pianoalben, stellte den Guiness-Weltrekord für das längste Konzert auf (27 ziemlich verschwitzte Stunden), züppelte für ein Daft Punk-Album die Harmonien zurecht, wofür es einen Grammy gab, transferierte deutsche Weihnachtslieder für eine eigene Weihnachtsplatte von Dur nach Moll, Stille Nacht, depressive Nacht. Was Chilly Gonzales deshalb glücklicherweise nicht tat in seiner Zeit am Rhein: ein Album mit kölschen Liedern aufzunehmen, auf dem er die lokalpatriotischen Hymnen persifliert. Denn bei seinem Talent als Musiker und Entertainer hätte Gonzales das am Ende so gut hinbekommen, dass sich eine weitere Rotte Schunkelterror-Ohrwürmer gnadenlos durch die Welt gefressen hätte.

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Mittlerweile ist Gonzales an die Seine weitergezogen, und anders als in Köln steht dem Mann aus Montreal in Paris keine Sprachbarriere im Weg. Und so hat Gonzales sich nun direkt in die lokale Musiktradition gestürzt - denn er scheint Zeit zu haben. Zumindest gähnt er auf dem Cover seines neuen Albums herrlich ausgeschlafen in den Pariser Morgen, mit einer Zigarette oder vielleicht auch einer etwas längeren Zigarette im Bette, das Kissen im Rücken, ein Baguette neben sich.

Dass Gonzales mit "French Kiss" ein Chanson-Album ohne ironische Brechung aufgenommen hätte, ist bei seiner Provenienz ohnehin ausgeschlossen - die brennende Notre Dame im Hintergrund des Covers teilt das schon vor dem ersten Hören mit. Und dann: Macht sich Gonzales im Titellied über seinen kanadischen Akzent lustig, in dem er die Sprache von Voltaire und Bangalter (Daft Punk) nun mal spricht, im dazugehörigen Video lässt er seine Worte von Slimfit-Präsident Emanuel Macron, Rechtszündler Éric Zemmour und Hemdweitoffen-Philosoph Bernard-Henri Lévy sprechen, KI-Technik machts möglich. Sprechen, weil singen, das kann das Multitalent Chilly Gonzales dann vielleicht als eine der wenigen Dinge doch nicht so gut - was den elf Titeln auf "French Kiss" aber keinen Abbruch tut, denn er, sein Piano und seine Selbstironie werden von gut ausgewählten Gästen unterstützt. Moritz Baumstieger

Maria Callas auf 131 CDs

Die Diva assoluta: Maria Callas (Foto: imago stock&people/United Archives)

Wie die ehrgeizige Lady Macbeth ihren Ehemann dazu bringt, seine tatsächlichen oder vermeintlichen Gegner und Konkurrenten zu morden, das hat Giuseppe Verdi recht eindringlich komponiert. Dennoch bleibt Spielraum für eine individuelle Rollengestaltung, die Blutrünstige als schieres Monster darzustellen oder als gespaltene Persönlichkeit, die von spontaner Wut ebenso beherrscht wird wie von unkontrollierbarer Hysterie. Maria Callas setzt da Maßstäbe an Ausdrucksintensität und unerbittlicher klanglicher Grenzerfahrung, die kaum zu überbieten sind. Außer man gesteht auch diesem Monster ein gewisses Maß an Liebesfähigkeit, ja sogar Menschlichkeit zu, wie dies Anna Netrebko, die größte dramatische Sopranistin unserer Tage, aufs Überzeugendste versteht. Die Callas dagegen reizt auch das Hässliche, der schier ordinäre Stimmklang, der bei ihr immer wieder zutage tritt. Virtuos spielt sie mit den zwei Seiten ihrer Stimme und erzeugt dadurch eine ungeheure Spannung, die tatsächlich auf dieser klangästhetischen Ambivalenz beruht.

Es ist nicht die erste Callas-Edition, die nun bei Warner schon jetzt auf 131 CDs anlässlich ihres 100. Geburtstages am 2. Dezember erscheint. Aber es ist die umfangreichste, was ihr Repertoire betrifft. Man hört sie in allen ihren Rollen, darunter in vielen sehr gut remasterten Live-Aufnahmen. Von heutigen Sängern gibt es bei Weitem nicht so viele Aufnahmen, und Studioaufnahmen von Opern sind unbezahlbar geworden. Dabei wären sie, auch dies lehrt diese Edition, eine sinnvolle Ergänzung der Live-Aufführungen, in denen doch nicht immer alles perfekt ist und selten alle Rollen optimal besetzt sind. In diesen Aufnahmen fügen sich um die Callas herum eine Reihe heute vergessener Sänger in erstaunlich homogenen Ensembles. Aber natürlich ist es dann der effektvolle Auftritt der Callas mit ihrer unverwechselbaren Stimme, die das Geschehen sofort an sich reißt. Am Ende war die Callas, wie Anna Netrebko heute, nach Jahren widerstreitender Publikumsreaktionen und Kritikereinschätzungen, die größte Sängerin ihrer Zeit. Dass sie bis heute ihren Platz in der "Opéra imaginaire" behalten hat, ist wohl den zahlreichen Plattenaufnahmen zu verdanken. Helmut Mauró

Podcast "Scamanda"

Meet Scamanda (Foto: Lionsgate)

Was macht einen erfolgreichen Betrug aus? Sicher, das Geschick, der Charme, die Unverfrorenheit des Betrügers. Aber selbstverständlich auch die Fruchtbarkeit des Bodens, auf den er trifft. Im Podcast mit dem eher blöd zusammengeschraubten Namen "Scamanda" (Scam wie Betrug und Amanda wie die Betrügerin) lernt man das schnell. In der noblen Umgebung von San Francisco hat die gute Christin und Mutter Amanda R. jahrelang ihr persönliches Drama aufgeführt: Sie habe Krebs und es gebe keine Hoffnung für sie. Mutig, wie offen sie von ihrem Leid vor ihrer Kirche und in ihrem Blog berichtete, denkt ihr Umfeld. Und wie soll die Arme nur die Kinder versorgen, die horrenden Arztrechnungen bezahlen? Im christlichen Kalifornien des Silicon Valley finden sich viele Helferinnen und Helfer. Wie es erst Jahre später gelang, die große Lüge aufzudecken, davon erzählt der Podcast in acht Episoden. Aurelie von Blazekovic

Liam Neeson als Philip Marlowe

Liam Neeson in "Marlowe" (Foto: Parallel Films/ Hills Productions/ Davis Films/ Amazon Video)

Dieser Marlowe ist ein Klotz, ohne die grazile Gerissenheit von Humphrey Bogart oder Dick Powell. Ein Fremdkörper in der glitzernden (und bald kokainsüchtigen) Hollywood-Welt, wo er ermittelt. Schon weil Liam Neeson ihn spielt, schwarzgewandet und asketisch (DVD bei EuroVideo, Regie Neil Jordan, Drehbuch William Monahan, nach einer Chandler-Hommage von John Banville alias Benjamin Black, 2014). Ein irischer Marlowe, den Ersten Weltkrieg hat er bei den Royal Ulster Rifles erlebt, an der Somme (der Film beginnt Oktober 1939, kurz nach Beginn des Zweiten). Wenn Mrs. Cavendish, ein Ex-Filmstar (sehr süffisant: Jessica Lange), einem Kellner metikulös die richtige Teezubereitung erklärt, merkt Marlowe sofort, das ist von Joyce geklaut: "When I makes tea I makes tea. And when I makes water I makes water." "Joyce" murmelt Cavendish, "shitty little man ... Hat keinen Tag seines Lebens gearbeitet. Der schreckliche kleine Syphilitiker." Fritz Göttler

Theater: "Orlando" in Luzern

Geschlecht? Egal: Jürg Kienberger, Robert Rožić, Wiebke Kayer und Ziad Nehme in "Orlando". (Foto: Ingo Hoehn)

Man muss die Gender-Debatte nicht immer apodiktisch führen, es geht auch anders. Federleicht. Dazu braucht man den richtigen Stoff - Virginia Woolfs Roman "Orlando", in dem die Titelfigur jahrhundertelang lebt und dabei ihr Geschlecht wechselt. Und man braucht dazu die richtigen Leute. Die feine Regisseurin Corinna von Rad hat die am Theater Luzern. Jürg Kienberger macht in einem liebevoll hingetupften Ambiente wundervoll versponnene Musik, Ziad Nehme singt und spielt, Robert Rožić spielt und singt, und zusammen mit Wiebke Kayser flirren alle vier durch Jahrhunderte und Geschlechterrollen, auf der Bühne und in einem Video, das wie ein Gemälde wirkt. Sie sind Frau, Mann, alles dazwischen, und die große Lehre daraus: Es ist völlig egal, welches Geschlecht man gerade hat, Hauptsache, man ist ein Mensch. Und kann poetisch verzaubern. Egbert Tholl

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