Klaus Maria Brandauer in München:Die armen Götter!

Lesezeit: 4 min

Klaus Maria Brandauer (Archivbild) verkörperte schon alle großen Rollen der Theatergeschichte, in München trat er als er selbst auf. (Foto: Andreas Henn)

Klaus Maria Brandauer verblüfft und begeistert in München mit seinem Programm "Fast ein Hamlet mein Mephisto, ein Ödipus für Jedermann".

Von Egbert Tholl

Voll. Die Isarphilharmonie in München ist ausverkauft, was nicht heißt, dass alle Plätze belegt sind, weil es hier auch Sitzplätze hinter dem Podium gibt. Die werden aber nur in Konzerten verkauft, nicht wenn ein Mensch allein auf der Bühne ist. Ein Mensch, ein Tisch, ein Klavierhocker und mindestens 1600 Zuhörer. Auf dem Tisch zwei Bücher, die in zweieinhalb Stunden nie geöffnet werden, die nur als Stütze für die Kladde dienen, aus der er liest. Er, der seit ewigen Zeiten Burgschauspieler ist, der zum Filmstar wurde, in István Szabós "Mephisto" oder im Bond-Film "Never Say Never Again" oder in "Out Of Africa" oder oder oder, er, der alle großen Rollen des urklassischen Repertoires auf der Theaterbühne verkörperte. Am 22. Juni dieses Jahres wird Klaus Maria Brandauer 80, mühelos füllt er die Säle, allein mit sich.

Der Münchner Auftritt ist Beginn einer Lesetour durch diverse Städte, die den seltsamen Titel trägt: "Fast ein Hamlet mein Mephisto, ein Ödipus für Jedermann". Vier Rollen, die er verkörperte. Darüber hinaus ist vorab nicht in Erfahrung zu bringen, worum es an diesem Abend gehen wird. Die Hoffnung der vielen, die bis zu 75 Euro zahlten, um dabei zu sein, liegt wohl auf einer fröhlichen, geistreichen, vielleicht ein bisschen boshaften Sammlung lustiger Anekdoten aus einem nun fast 60 Jahre währenden Bühnenleben, auf der Feier eines Jubiläums. Manche der Anwesenden könnten ihn locker vor 38 Jahren als Hamlet gesehen haben, manche waren noch nicht geboren, als "Mephisto" ins Kino kam. Und fast alle wirken in der Pause leicht verstört.

Die 1600 hatten Anekdoten eines Stars erwartet - und bekamen Dostojewski

Dabei hat man Großartiges erlebt. Aber eben Unerwartetes. Keine Einleitung. Brandauer, gut verkabelt mit zwei Mikrophonen, setzt sich, schlägt die Kladde auf und liest einen Traum vor. Falke und Eule kämpfen in der Luft, stürzen sich aufeinander, fressen sich auf. Von dort mäandern die Gedanken zu Macbeth und dessen Lady, die wie ein Mann agiert und Macht will. Während man noch darüber nachdenkt, ob der Falkentraum in Shakespeares "Macbeth" vorkommt, erzählt Brandauer schon von Fjodor Michailowitsch Dostojewski, von sibirischem Straflager, im letzten Moment verhinderter Hinrichtung, von Begnadigung. Und vom Erzengel Michael. Damit ist man schon im Zentrum dessen, was Brandauer liest, ohne zu sagen, was es ist. Es folgt eben dies: eine Stunde Dostojewski, das Kapitel "Der Großinquisitor" aus dem Roman "Die Brüder Karamasow", eine Stunde Ethik, Religion, Philosophie und das - wenig optimistische - Nachdenken über das Menschsein an sich. Keine Anekdote, nirgends.

Aber freilich: eine Stunde Brandauer-Sound. Alterslos im Klang. Es ist ein Lesen wie ein Singen, obwohl zurückgenommen, obwohl sehr konzentriert. Wenig Theater nur, drei, vier Mal eine Figur plastisch herausgemeißelt aus dem Text, eine Andeutung nur, dann weiter mit dieser verrückten Fantasie: Jesus trifft in Sevilla in der Hochzeit der Inquisition, als jeden Tag Menschen brannten, die man für Ketzer hielt, und ein Ketzer war man damals schnell, auf den Großinquisitor. Der lässt ihn verhaften, in den Kerker werfen, das Volk schaut tatenlos zu.

Ein Gespräch im Verließ folgt, zwischen, quasi, einem weltlichen Teufel im Priestergewand und dem göttlichen Prinzip, wobei das Prinzip nur zuhört, was der Großinquisitor zu sagen hat: Jesus stört. Man habe sich schon gut eingerichtet auf der Welt, das Volk könne mit Freiheit nichts anfangen, es tat gut daran, diese der Kirche zu überantworten. Mit Lug und Trug und im Namen Jesu, aber entgegen dessen Ansinnen, schafft die Kirche, also die Macht, dass sich die armseligen Menschen für glücklich halten: Versklavt uns lieber, aber macht uns satt.

Am Ende küsst Jesus den Großinquisitor, der lässt ihn machtlos gehen. Aber was für eine Hoffnung wäre denn das! Man hat stark das Gefühl, Brandauer wollte vielleicht ursprünglich ganz was anderes lesen, nicht diesen Text, den er 2018 im Dom zu Köln vorgetragen hatte. Aber da die Welt nun einmal so ist, wie sie ist, liest er Dostojewski, und man denkt an Putin, Russland und wie das alles möglich sein kann, das Grauen.

Brandauer hebt die Kladde hoch, knallt sie mit Wucht auf den Tisch, verspricht, implizit, für nach der Pause Fröhlicheres. Aber Pause muss sein, auch wenn man alterslos ist.

"Schnips-Schnaps-Regenwurm": Das Publikum tobt befreit, weil es jetzt saftiger wird

Danach geht es erst einmal ohne Quellenangaben im Strom der Gedanken weiter, nahen sich Goethes "schwankende Gestalten", wird der Großinquisitor in die Mephistofigur hinein verlängert, daneben Faust, das prometheische Prinzip, Machen, Tun - Marx sah Prometheus als Heiligen im mythischen Kalender - und zack, Theater. Goethes "Faust"-Puppenspiel aus Studententagen, von Brandauer herrlich verfleischlicht, schon die Namen der Figuren, allesamt Hanswurstiaden, "Schnips-Schnaps-Regenwurm", erstmals tobt das Publikum befreit. Weil es nun saftig wird. Brandauer rezitiert aus seinem Zettelkasten den "Erlkönig", den "Prometheus" - "Bedecke deinen Himmel, Zeus!" -, schließt damit an den ersten Teil an: "Ich kenne nicht Ärmeres unter der Sonne als euch, Götter." Also weiter geht es mit der Diskussion von Freiheit und menschlicher Selbstbestimmtheit, der Faust kehrt als Thema zurück, weil Hiroshima, das war ja auch Fortschrittsglaube, die entsetzliche Seite davon.

Das inhaltliche Anliegen Brandauers ist enorm, mitunter klingt das dann auch nach Kanzel, zumindest nach Moral. Moral ist, wenn man moralisch ist, also sein Schlussgruß: "Es gibt nichts Gutes" - Antwort des Publikums: "Außer man tut es." Da hat der große Prediger, der herrliche Geschichtenerzähler längst alle im Sack, hat davor, ganz Profi, Zugabe an Zugabe gereiht, darunter die wundersame, 100 Jahre alte Geschichte von "Halifax und Biwifax" von Fritz Müller, in welcher auf fantasievolle Weise das Problem gelöst wird, wenn zu Weihnachten der Nachbarsjunge tolle Schlittschuhe kriegt und man selbst nur Strümpfe.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusAndré Kaczmarczyk
:"Ich bin völlig aus der Art geschossen"

Er liebt das Theater, spielt in Düsseldorf in seiner eigenen Inszenierung und trägt einen Rock als Kommissar im "Polizeiruf": Willkommen in der Welt des Schauspielers André Kaczmarczyk.

Von Alexander Menden

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: