44 Kilo. Das muss man sich mal vorstellen. Mit 44 Kilo Sprengstoff wollte, nach allem was zu hören war, im Oktober ein Nachbar von Keith Richards in Connecticut den Gitarristen in die Luft jagen. Den Mann umgaben ja schon immer die besten Meldungen. Er fällt auch als Opa zum Beispiel noch ganz gerne auf den Fidschi-Inseln vom Baum, ohne dass sich hinterher irgendjemand fragt, wie er da überhaupt rauf gekommen ist. Wieso auch? Wir reden hier schließlich nicht von irgendeinem klampfenden Rentner. Wir reden von Good Ol' Keef.
44 Kilo also. Was hat sich dieser Nachbar eigentlich dabei gedacht? Viel kann es nicht gewesen sein. Sonst wäre er nie auf den Gedanken gekommen, dass 44 Kilo Sprengstoff wirklich ausreichen könnten, um Keith Richards um die Ecke zu bringen. Das haben in 444 Jahren nicht mal 4444 Kilo Rauschgift geschafft. Und warum nicht? Ganz einfach. Weil es so ist, wie es Ron Wood einmal sagte (oder war's Bill Clinton?): Es gebe genau zwei Lebensformen, die den Atomkrieg überlebten - Kakerlaken und Keith Richards. Fest steht außerdem: Noch zäher als Keith Richards dürfte nur seine Leber sein.
Los ging die Sache mit der Unsterblichkeit aber anders. Es gibt Filmmaterial eines Interviews mit Keith Richards, in dem er zum Tod des Rolling-Stones-Gründungsmitglieds Brian Jones befragt wird. Es dürfte aus Jones' Todesjahr 1969 stammen. Die Trauer um den einstigen Komplizen ist ihm anzusehen. Aber er hatte auch aus der Nähe miterlebt, wie Jones - befeuert von Drogen- und Alkohol-Missbrauch - über die Jahre immer unerträglicher und die Zusammenarbeit am Ende unmöglich geworden war (wenige Wochen vor seinem Tod, im Juli 1969, hatten Mick Jagger und Richards Brian Jones deshalb aus der Band geworfen). So klingt es deutlich ernüchtert, wenn Richards im Interview erklärt, dass ihn Jones' Tod zwar geschockt, aber nicht wirklich überrascht habe. Jeder kenne schließlich "Leute, bei denen man das Gefühl hat, dass sie niemals 70 Jahre alt werden".
Rolling Stones:"Ein Bürgerschreck"
Mit dem Tod von Charlie Watts sind die Rolling Stones Geschichte. Vor mehr als 50 Jahren traten sie zum ersten Mal in Deutschland auf und sorgten für skurrile Reaktionen. Eine Auswahl.
Richards selbst ist in der Aufnahme allerdings auch nicht mehr der irritierend jungenhafte Keith mit den gigantischen Segelohren, der er bis Anfang 1967 gewesen war. Um die Augen liegt schon Kajal, der Blick ist schwer und die Segelohren werden vollständig von zerwühlten schwarzen Haaren verdeckt.
Auf offener Bühne eingeschlafen
Ein paar Exzesse hat dieser Mann schon hinter sich, kein Zweifel. Er sieht eindeutig älter aus, als er zu diesem Zeitpunkt sein sollte (er ist 25). Ausgezehrter. Mit anderen Worten: Er ist unübersehbar längst selbst auf dem Weg zu einem von den Leuten zu werden, bei denen man das Gefühl hat, dass sie niemals 70 Jahre alt werden. Und so kam es dann erstmal auch.
Die Siebziger werden das Jahrzehnt des maßlosen Heroin-Junkies Richards. Und damit die Zeit, die bis heute einige sehr gute Keith-Richards-Geschichten sehr glaubwürdig erscheinen lässt. Dass es etwa Auftritte der Stones gegeben habe, bei denen Mick Jagger dafür gesorgt habe, dass Richards Gitarre nicht zu hören war - weil er keinen Ton mehr getroffen habe. Dass er 1976 auf offener Bühne während des Songs "Fool To Cry" eingeschlafen sei - im Stehen (Richards selbst behauptete später, dass das nur passiert sei, weil er den Song so genau gekannt habe). Oder dass er daran geglaubt habe, in der Schweiz seine Drogensucht loszuwerden - via Blutwäsche.
Qualvolle Jahre, in denen trotzdem Alben wie "Sticky Fingers", "Exile On Main Street" oder "Some Girls" entstanden. Und immer neue Monster-Songs wie "Tumbling Dice", "Brown Sugar", "Wild Horses", "Happy", "It's Only Rock 'n' Roll (But I Like It)", "Miss You", "Angie", "Beast Of Burden" oder "Respectable" - alles ebenso unzerstörbar wie so vieles aus den Sechzigern, von "Satisfaction" bis "Jumpin' Jack Flash". Und zwar bis heute und, wie es aussieht, bis in alle Ewigkeit. Meistens schon allein durch Richards Gitarren-Riffs.
Wieder und wieder unverwechselbar
Solo-Angeber und Zwangs-Gniedler hat die Rockgeschichte vergleichsweise viele hervorgebracht. Aber ein Riff-Genie wie Keith Richards nur ein einziges Mal. Niemand sonst beherrschte in der Rockmusik je so vollendet die große Kunst, ganz kleine, sparsame, luftige, fast minimalistische Tonfolgen in ein paar Sekunden so aus dem Handgelenk tropfen zu lassen, dass sie wieder und wieder unverwechselbar waren. Die Wahrscheinlichkeit, dass es nie wieder ein Riff-Genie wie ihn geben wird, ist ziemlich hoch. Schon allein, weil es dafür vielleicht auch einfach zu wenige Töne gibt.
Das Leben neben der Musik dürfte nicht leicht gewesen sein mit ihm, besonders für sein 1969 geborenes erstes Kind Marlon. Seine Mutter Anita Pallenberg, ein Model, das als Muse der Stones bekannt geworden war, hatte tatsächlich ein noch größeres Drogenproblem als Gatte Keith. Also nahm der den Jungen mit auf Tour. Es gibt irre Bilder davon, auf denen zum Beispiel ein 8-Jähriger und ein weltberühmtes Drogenwrack in einem Hotelzimmer mit einer Carrera-Bahn spielen.
Popgeschichtlich gesehen, sind die Siebziger die Jahre, die endgültig den Mythos "Keith Richards" hervorbringen. Die Jahre, ohne die er heute nicht der berühmteste Überlebende der Musikgeschichte wäre. Also dieser unfassbare Typ, der seit ein paar Jahren auch noch einen sehr erfolgreichen Doppelgänger namens Johnny Depp in Hollywood beschäftigt.
Und von dem Elton John im Streit einmal sagte, er sähe aus wie ein Affe mit Arthritis, der auf die Bühne geht und versucht, jung auszusehen. Wobei die eigentliche Pointe dieser nicht ganz untriftigen Beobachtung ist, dass Richards dabei verblüffenderweise trotzdem nie seine Würde verlor. Im Gegenteil. Über die Jahre schien er immer würdevoller da oben. Man sehe sich auf YouTube nur noch einmal an, wie er in diesem Sommer im Londoner Hyde Park "Jumpin' Jack Flash" spielte. Absurd beweglich in den Knien, maximal laid back, perfekt.
Womit die letzte, entscheidende Frage im Raum steht: Wie konnte es so weit kommen, dass diese abgewohnte Vogelscheuche ihr eigenes Leben überstanden hat und im 70. Lebensjahr noch so spielen kann?
Tja. Da hilft es womöglich nur, ganz genau hinzusehen. Die Geschichte etwa, wie er es einmal mit Hilfe von erstklassigem pharmazeutischem Kokain neun Tage lang ohne Schlaf aushielt, bis er eine kleine Treppe herunterstürzte und blutverkrustet erst einen Tag später erwachte, ist legendär. Aber eigentlich handelt sie davon, dass er trotzdem ununterbrochen wirklich produktiv arbeitete, Track um Track aufnahm.
Nur eine Kopie
Oder diese Bonus-Szene auf der DVD von Martin Scorseses 2006 veröffentlichter Stones-Konzert-Doku " Shine A Light". Da kommt bei der Generalprobe irgendwann Bill Clinton auf die Bühne und ist so haargenau der Polit-Superstar Bill Clinton, der lässigste Mächtige aller Zeiten, dass Mick Jagger gar nicht mehr von ihm lassen kann. Beflissen aufgekratzt, geben die beiden noch dem letzten Sender ein Buddy-Interview.
Richards improvisiert währenddessen am anderen Ende der Bühne mit geschlossenen Augen auf einer Akustikgitarre, vollkommen in sich ruhend. Und dann sieht man in diesem Doppelknautsch-Gesicht plötzlich nichts als die reine Hingabe an die Musik. Und da ist es völlig klar: Das ist es, was diesen Mann am Leben gehalten hat - und wer weiß wie lange noch am Leben halten wird.
" I'm only a mere copy of it - to me." - Aus meiner Sicht bin ich eigentlich nur eine Kopie. Das erklärte Richards immer, wenn er zu seinen Vorbildern Bo Diddley, Chuck Berry oder Muddy Waters befragt wird. In den vergangenen Jahren immer eindrücklicher. Die besten Passagen seiner 2010 erschienenen, ohnehin großartigen Autobiographie "Life" handeln davon.
Wer sollte noch viele Jahre vor sich haben, wenn nicht er?
Er wusste, wem er seine Kunst zu verdanken hatte: Den schwarzen Bluesmen, die die USA selbst vielleicht vergessen hätten ohne europäische Bands wie die Rolling Stones und besessene Bewunderer wie ihn. Streng genommen, stimmt es wahrscheinlich sogar, dass er ein reiner Kopist ist. Aber welche Musik hat es je ohne Vorlagen gegeben, die irgendein Zauberer dann so verwandelte, dass etwas neues Aufregendes daraus wurde? Keine.
Bedauern könnte man allenfalls, dass es so wenige Zauberer gibt. Obwohl, wünschen wir ihm und uns heute lieber, dass er einmal so alt wird, wie er seit etwa 20 Jahren aussieht. Dann sollte er noch etwa 30 Jahre haben. Vielleicht sogar 40. Wer, wenn nicht er?