Interview zu Konsumverhalten:"Es gibt heute mehr Sklaven als zur Zeit des Sklavenhandels"

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Kathrin Hartmann hält nicht viel von den Nachhaltigkeits-Versprechen vieler Unternehmen (Foto: Stephanie Füssenich)

Kann der richtige Konsum Umweltzerstörung, Ausbeutung und Zwangsarbeit verhindern? Unfug, sagt Kathrin Hartmann, Autorin von "Die Grüne Lüge". Nur die Politik kann das - wenn man sie zwingt.

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Kathrin Hartmann recherchiert Unternehmen hinterher, die einerseits nachhaltige Produkte versprechen und andererseits Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung in die Länder des Südens bringen. Im Dokumentarfilm "Die Grüne Lüge", der gerade im Kino angelaufen ist, zeigt Hartmann zusammen mit dem österreichischen Regisseur Werner Boote unter anderem die Folgen von Rinderzucht in Brasilien und von Regenwaldabholzung für Palmöl-Plantagen in Indonesien. In ihrem gleichnamigen Buch vertritt Hartmann die These, dass umwelt- und menschenrechtsbewusster Konsum für den Einzelnen kaum möglich ist, solange die Politik Unternehmen nicht dazu zwingt, fair und nachhaltig zu produzieren.

SZ: Frau Hartmann, was ist "die grüne Lüge"?

Kathrin Hartmann: Die grüne Lüge hat mehrere Ebenen. Auf der einen erzählen uns Konzerne, sie würden keine Umweltzerstörung mehr betreiben. Im Gegenteil, sie seien jetzt praktisch die Retter der Welt - obwohl sie einfach so weitermachen wie bisher. Heute suggerieren Produkte gerne, dass man Umweltaktivist ist, wenn man sie kauft.

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Man kann ja leider nicht wirklich ökologisch handeln als profitorientierter Unternehmer. Kathrin Hartmann zeigt in "Die grüne Lüge", warum das so dreist wie politisch verheerend ist.

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Wie sieht das konkret aus?

H&M zum Beispiel hat, begleitet von einer großen Recycling-Kampagne, alte Kleider gesammelt. Für die abgegebenen Altkleider gab es allerdings nur Rabattgutscheine - damit die Leute dort neue Kleidung kaufen. Daran sieht man: Es geht bei Greenwashing, also der PR-Methode, ein Unternehmen besonders nachhaltig und umweltfreundlich erscheinen zu lassen, immer darum, das profitable Kerngeschäft zu erhalten. So versichern zum Beispiel Lebensmittelkonzerne wie Unilever, dass ihre Produkte nachhaltiges Palmöl enthalten. Für den Anbau des Palmöls betreiben ihre Lieferanten in Indonesien trotz Nachhaltigkeitssiegel aber Landraub. Sie holzen illegal Regenwald ab und lassen auf den riesigen Plantagen Kinder und moderne Sklaven arbeiten.

Was ist der zweite Teil der grünen Lüge?

Uns als Konsumenten wird erzählt, wir könnten an diesen Bedingungen etwas ändern, wenn wir im Supermarkt nur die richtige Wahl treffen würden. Die grüne Lüge verschafft einem einerseits ein gutes Gewissen, gleichzeitig macht sie den Menschen dauernd ein schlechtes Gewissen, weil sie die Verantwortung auf die einzelnen Käufer schiebt. Sie sagt: "Wenn ihr nicht das richtige Produkt kauft, seid ihr schuld."

Was ist falsch an einem Appell an die Verantwortung des Einzelnen?

Es ist einfach zynisch, uns die Entscheidung für oder gegen Ausbeutung und Zerstörung zu überlassen. Die wichtige Frage ist doch nicht: Was sollen wir einkaufen? Die wichtige Frage lautet: Warum dürfen Unternehmen überhaupt so produzieren?

Unser Konsum hat also nicht so viel Einfluss auf die Produktionsbedingungen, wie immer behauptet wird?

Wir sind Teil einer Gesellschaft, die systematisch auf Kosten anderer lebt. Es gibt heute mehr Sklaven als zur Zeit des Sklavenhandels, auch in Relation zur Gesamtbevölkerung. Palmöl ist das billigste Fett der Welt. Warum? Weil Palmölkonzerne in Indonesien indigenen Völker das Land wegnehmen und illegal Wald niederbrennen können. Also haben die Menschen, die sich nirgends mehr selbst versorgen können, gar keine andere Wahl mehr, als zu miserablen Bedingungen in den Plantagen zu arbeiten. Diese Verhältnisse findet man auch bei allen anderen pflanzlichen Rohstoffen, die für den Export in den reichen Norden der Welt in riesigen Monokulturen im armen Süden angebaut werden - etwa Soja oder Zuckerrohr. Natürlich kann ich meinen Konsum einschränken und viele tun das erfreulicherweise auch. Aber erstens wird aus einer Ansammlung unterschiedlicher individueller Einkaufsentscheidungen kein großes Ganzes. Es entsteht kein Markteinfluss, der dazu führt, dass Unternehmen von sich aus besser oder weniger produzieren. Selbst Großkonzerne mit katastrophalem Image wie Coca-Cola oder Nestlé fahren ungebrochen satte Profite ein, obwohl sie ihre Arbeitsweise trotz vehementer Kritik und Skandale nicht geändert haben. Und zweitens gibt es groß angelegte Konsum-Boykotte extrem selten.

Die grüne Lüge Dokumentarfilmer Werner Boote Die grüne Lüge Dokumentarfilmer Werner Boote (Foto: Little Dream Entertainment)

Trotzdem gibt es aber doch Erfolge.

Das bekannteste Beispiel ist wohl der Shell-Boykott Mitte der Neunzigerjahre. Damals hatte Greenpeace mit einer riesigen Kampagne dazu aufgerufen, weil der Ölkonzern sein schwimmendes Öllager Brent Spar im Atlantik versenken wollte. Die Menschen tankten nicht mehr bei Shell, der Umsatz brach drastisch ein - und tatsächlich entsorgte Shell auf den enormen öffentlichen Druck hin die Plattform an Land. Und die gute Nachricht ist: Der Protest von Greenpeace führte dazu, dass es verboten wurde, Ölplattformen im Nordatlantik zu versenken. Der Boykott an sich war allerdings emotional und willkürlich: Die Menschen sind nicht weniger Auto gefahren, sondern haben bloß an anderen Tankstellen getankt. Zum Beispiel bei Esso, denen Brent Spar zur Hälfte gehörte. Nach Shells möglicher Beteiligung an der Ermordung von Umweltaktivsten und der Zerstörung des Niger-Deltas in Nigeria, ebenfalls in den Neunzigerjahren, gab es hingegen keinen solchen Boykott. Es gab auch keinen Boykott wegen der Katastrophe nach der Explosion der Plattform Deepwater Horizon im Golf von Mexiko. BP musste zwar eine hohe Strafe zahlen, aber schwer geschadet hat es ihnen nicht. Obwohl die Folgen vor Ort in Louisiana immer noch spürbar sind, wie wir im Film zeigen.

Das klingt alles sehr pessimistisch.

Ist es auch, weil wir hier nicht über Einzelbeispiele reden, sondern über ein System. Es gibt unzählige Untersuchungen und Enthüllungsberichte sowohl von NGOs als auch von Wissenschaftlern, die belegen, wie Unternehmen agieren. Es geht ja nicht um ein paar schwarze Schafe. Es geht um eine Wirtschaftsordnung, in der diese Art des Wirtschaftens legal ist. Spätestens seit Naomi Kleins Buch "No Logo" stehen unzählige Markenkonzerne in der Kritik. Hat es je einen großen Konsumboykott gegeben, der zu einer fundamentalen Veränderung geführt hätte? Nein. Warum reden wir denn immer im Konjunktiv: "Wenn alle nur anders einkaufen würden"? Warum haben wir nicht eine andere Utopie?

Wie sieht Ihre Utopie aus?

Meine Utopie ist ein selbstbestimmtes, solidarisches Leben, mit gleichen Rechten für alle. Dass alle Menschen auf der Welt Zugang zu Gesundheit, sauberem Wasser und zu gutem, gesundem Essen haben. Ganz konkret halte ich zum Beispiel Ernährungsunabhängigkeit für einen großen Hebel für globale Gerechtigkeit: Das bedeutet, dass Lebensmittel demokratisch produziert werden - nach den Bedürfnissen und Wünschen der Menschen, ressourcenschonend, ökologisch und sozial gerecht, ohne Ausbeutung und Naturzerstörung. Im Mittelpunkt stehen regionale Märkte - nicht der Export oder die Profitinteressen. Das kann Armut und Hunger abschaffen, das Klima retten und Ressourcen bewahren. Zu dem Ergebnis kommt auch der Weltagrarbericht der Vereinten Nationen und der Weltbank. Dafür kämpft die Internationale Kleinbauernbewegung und es wird vielerorts längst gelebt - bei uns etwa in Projekten der Solidarischen Landwirtschaft. Dieser Bewegung können wir uns anschließen, indem wir bei solchen alltagspraktischen Projekten mitmachen oder bei Protesten für eine andere Landwirtschaft und gegen die Agrarlobby - ganz aktuell gegen die Fusion der Konzerne Bayer und Monsanto.

Wie könnte eine solche Welt erreicht werden?

Wir müssen gemeinsam dafür kämpfen, schließlich geht es um die Lebensgrundlage von uns allen. Einen Reißbrettplan dafür hat niemand. Wir können aber aus den Erfolgen der Vergangenheit lernen - zum Beispiel dem Atomausstieg. Bei den aktuellen Kohleprotesten ist viel aus der Anti-Atomkraft-Bewegung hervorgegangen, vor allem an Proteststrategien. Während des Klimagipfels in Bonn ist es einer Aktivistengruppe zum Beispiel gelungen, eines der schmutzigsten Kohlekraftwerke in ganz Europa, das RWE-Kraftwerk in Weißweiler, zu besetzen und für ein paar Stunden lahmzulegen. Sie konnten beweisen, dass nichts zusammenbricht, wenn das Kraftwerk stillsteht. Es gibt sehr viele Möglichkeiten, zu Zerstörung und Ausbeutung "Nein" zu sagen - wenn wir denn "Nein" sagen wollen.

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Jemand, der Vollzeit arbeitet, eine Familie und wenig Freizeit hat, findet eher keine Zeit für Protestaktionen.

Wie kommen Sie denn darauf? Bei den großen Protesten der vergangenen Jahre - etwa gegen TTIP, Kohleabbau, die industrielle Landwirtschaft oder gegen den Rechtsruck - waren jeweils zigtausende Menschen auf der Straße. Das sind alles Bürger, die selbstverständlich nebenher noch einen Arbeits- und Familienalltag haben, die aber etwas ändern wollen. Es geht ja schließlich auch um unsere Lebensgrundlagen! Veränderung kommt immer von unten. Allerdings eben nicht durch Konsum, sondern durch politischen Protest. Denn im Gegensatz zu Konsumenten, die ja nur kaufen können, haben wir als Bürger Rechte. Und die haben wir uns erkämpft, nicht erkauft. Ein Einkauf im Supermarkt ist unsichtbar. Er tut niemandem weh und macht niemandem Angst. 30 000 Menschen, die auf die Straße gehen, sind aber sichtbar. Das kommt bei der Politik an. Es gibt viele Möglichkeiten, auf lokaler Ebene für globale Gerechtigkeit zu kämpfen: etwa für eine autofreie Innenstadt. Derzeit gibt es eine wachsende Bewegung, die von den Vereinten Nationen ein Abkommen fordert, das Menschenrechten Vorrang vor Konzerninteressen sichert. Konzerne würden dann verpflichtet, bei allen Auslandsgeschäften Menschenrechte zu achten - und wenn sie dagegen verstoßen, können sie dafür verurteilt und bestraft werden. Das sind erste Schritte, wie man das System ändern kann.

Im Film und im Buch greifen Sie Nachhaltigkeitssiegel an. Warum?

Das Wort "nachhaltig" bedeutet eigentlich nichts, es ist kein geschützter Begriff wie zum Beispiel "bio". Das staatlich geschützte Biosiegel hat strenge Standards für den Anbau, es wird kontrolliert und Verstöße werden geahndet. Nachhaltigkeitssiegel von Unternehmen sind freiwillige Versprechen, es irgendwie besser zu machen. Weil das aber so schwammig ist, kann im Prinzip jede Firma selbst entscheiden, was sie darunter versteht und was sie den Menschen unter dieser Bezeichnung verkauft. Aber immer so, dass es dem Kerngeschäft nicht schadet.

Es gibt aber doch für derartige Produkte inzwischen einen Markt. Menschen sind bereit, mehr dafür zu bezahlen.

Bio-Kunden geben mehr Geld aus, richtig. Tatsächlich hat sich der Marktanteil von Bio-Lebensmitteln innerhalb der vergangenen zehn Jahre auf 5,6 Prozent mehr als verdoppelt. Allerdings auch deshalb, weil sich der Bio-Markt dem Mainstream anpasst und suggeriert: Alles ist zu jeder Zeit zu haben. Deshalb findet man Fertigprodukte mit Palmöl, Shrimps aus Bangladesch, südspanische Erdbeeren und Tomaten im Winter auch im Biosupermarkt. Das finde ich trotz bio fragwürdig. Aber Bio ist immer noch eine kleine Nische. Große Konzerne nutzen ja unverbindliche Nachhaltigeitssiegel gerade deshalb, weil sie ihre Produkte so ohne Preisaufschlag verkaufen können. Eigentlich ist es doch ganz einfach: Wenn diese Firmen wirklich Profit machen würden, wenn sie Dinge ökologisch und sozial gerecht herstellen, warum sollten sie denn etwas anderes tun? Dann könnte man sich diesen ganzen Siegel-Zirkus ja sparen. Andersherum gilt die Regel: Je problematischer ein Produkt und seine Herstellung, desto größer das Bemühen, es mit Nachhaltigkeitssiegeln zu versehen. Wie will man denn sehen, was hinter dem Siegel passiert? Das ist doch unendlich weit weg. Der Normalverbraucher kann ja nicht investigativ auf Palmölplantagen in Indonesien die Arbeitsbedingungen recherchieren. Das Siegel ist dazu da, ein Produkt, das problematisch ist, unbedenklich zu machen. Die Nachhaltigkeitssiegel sollen Konsumenten einen bequemen Weg schaffen, um sich keine weiteren Gedanken machen zu müssen.

Ihr Buch ist in einem polemischen, etwas belehrenden Tonfall geschrieben. Sie bezeichnen zum Beispiel die gut gebildeten, gut verdienenden, umweltbewussten Konsumenten als "grüne Hedonisten". Glauben Sie, dass das die richtige Art ist, Menschen auf Ihre Seite zu ziehen?

Es geht mir nicht darum, jemanden auf meine Seite zu ziehen. Sondern darum, Missstände aufzudecken und das falsche Gute zu entlarven. Dazu ist Kritik nötig, Sie fragen ja auch kritisch nach. Natürlich: Ich bin wütend. Ich habe bei meinen Recherchen unter dem grünen Deckmäntelchen viele entsetzliche Dinge gesehen, die ich nie mehr vergessen werde. Ich möchte nie mehr auf abgebranntem Regenwald stehen und nie mehr in der Hütte einer jungen verarmten Mutter von fünf Kindern sitzen, deren Mann von der Palmölfirma totgeschlagen wurde, damit die Industrie weiter unbehelligt Palmöl für Quatschprodukte wie Tütensuppen bekommt. Ich will, dass das aufhört. Dieses ganze harmonische Gerede der Art, man müsse die Menschen "positiv abholen", das halte ich für kontraproduktiv - wir sind doch nicht im Kindergarten, sondern mündige Erwachsene. Dieser Anti-Aufklärung möchte ich mit meinem Buch etwas entgegensetzen. Und ja, mich ärgert, wenn sich Menschen, die es besser wissen könnten, von den grünen Lügen einlullen lassen. Glauben wir im Ernst, dass ein Produkt wie Nespresso, das jedes Jahr einen 8000 Tonnen schweren Alukapsel-Müllberg verursacht und den Kaffee für 80 Euro pro Kilo verkauft, auch nur irgendwie öko sein kann? Bloß weil George Clooney armen Kaffeebauern in Costa Rica nett auf die Schulter klopft?

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