"In The Heights" im Kino:Tanz mit mir

Lesezeit: 4 Min.

Corey Hawkins und Leslie Grace in "In The Heights". (Foto: Warner)

Broadway-Star Lin-Manuel Miranda hat aus seinem Musical "In The Heights" einen bunten Kinofilm über New Yorker Einwanderer gemacht.

Von Annett Scheffel

Wie beginnt man ein Film-Musical, das von den kleinen und großen sozioökonomischen Fragen in einem Einwanderungsviertel erzählen soll? Ein Spagat zwischen Blockbuster-Ansprüchen und echten Alltagsproblemen. In "In the Heights", der Verfilmung des gleichnamigen Musicals von Broadway-Star Lin-Manuel Miranda ("Hamilton") geschieht das in bester Disney-Manier: als Märchen.

"Es war einmal in einem weit entfernten Land namens Nueva York", berichtet die Hauptfigur Usnavi, umgeben von großäugigen Kindern an einem karibischen Strand. "Dort waren die Straßen aus Musik gemacht." In den nächsten zweieinhalb Stunden geht es um das Einwanderungsland Amerika.

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Nueva York, das ist hier natürlich New York, das von jeher der klassische Start für Einwanderer in den amerikanischen Mythos war. In diesem Film-Musical ist das Setting ebenso elementar wie die Musik: Das titelgebende New Yorker Stadtviertel Washington Heights liegt an der nördlichen Spitze von Manhattan. Vom Broadway braucht man mit der U-Bahn zwar nur 20 Minuten dorthin, für die meisten New Yorker ist die Gegend trotzdem eine Art Nordpol: ein fremdartiges Territorium, in das sie sich nur selten verirren. Drei Viertel der Einwohner sind hispanischer Abstammung, vor allem aus Puerto Rico, Kuba und der Dominikanischen Republik.

Eine Freibad-Choreografie ist vom Musical-Altmeister Busby Berkeley inspiriert

Hier lebt auch der junge Bodega-Besitzer Usnavi, einnehmend und warmherzig gespielt von Anthony Ramos, Hauptdarsteller im mit Latinos verschiedener Abstammung besetzten, ausnahmslos sehr gut aussehendem Cast. Immerhin befinden wir uns in einem Musicalspektakel mit 55 Millionen Dollar Budget. Der Film startet wegen der Pandemie mit einem Jahr Verspätung und soll als mitreißender Feel-Good-Blockbuster eine führende Rolle im Sommer der Kinowiedereröffnungen einnehmen. Klar wird das schon in der zehnminütigen, aufwändig choreografierten Titelnummer, die den Film eröffnet. Im Morgengrauen eines heißen New Yorker Hochsommertags stellt uns Usnavi rappend die Community seines Viertels vor, die aus ihren Brownstone-Häusern in die Busse und zur Arbeit strömt. Das Stück endet mit einer überschäumenden Massenchoreografie, deren buntgemischte Tänzer einen ganzen Häuserblock einnehmen.

Die Sorgen sind groß, die Lebenslust größer: Es wird viel getanzt in "In The Heights". (Foto: Warner)

Wie unter einem Brennglas sammeln sich in "In the Heights" die Konflikte im Viertel und die "suenitos", die kleinen Träume seiner Bewohner. Dreh- und Angelpunkt der verschiedenen Erzählstränge ist Usnavis Bodega, ein typischer New Yorker Gemischtwarenladen. Ähnlich wie in Harvey Keitels Tabakladen in "Smoke" gehen hier alle mit ihren Hoffnungen und Enttäuschungen ein und aus: Da ist die schöne Kubanerin Vanessa, die im Schönheitssalon gegenüber jobbt und von einer Karriere als Modedesignerin träumt. Oder Usnavis Cousin und Aushilfe Sonny mit seinem ungeklärten Aufenthaltsstatus. Der größte Traum des lokalen Taxiunternehmers ist es, seiner Tochter ein Studium an einer Elite-Uni zu ermöglichen. Und dann ist da noch Abuela Claudia (Olga Merediz aus dem Original-Musical-Cast), die Nachbarschaftsmatriarchin, an deren Esstisch sich abends alle versammeln.

Bekannt geworden ist Lin-Manuel Miranda vor allem mit "Hamilton", 2015, seinem Hip-Hop-Musical über einen der Gründungsväter der USA, in dem die von weißen Männern geprägte Geschichtsschreibung des Landes mit überwiegend schwarzer und lateinamerikanischer Besetzung erzählt wird. "In the Heights" war 2008 sein erstes Erfolgs-Musical. Sein Stück über das von Latino-Communities geprägte und von Gentrifizierung bedrohte Viertel, in dem er als Sohn puerto-ricanischer Eltern selbst aufgewachsen ist, wurde gleich mit mehreren Tony Awards ausgezeichnet. Regisseur Jon M. Chu, der vor drei Jahren mit "Crazy Rich Asians" einen Kinohit landete, inszeniert die Filmadaption als modernes Ensemble-Musical mit spektakulären Tanz- und Gesangszenen.

Echter sozialer Widerstand? Die Macher flüchten lieber in "West Side Story"-Romantik

Mirandas Songs mit ihren Latin- und Hip-Hop-Rhythmen und spanisch-englischen Wortspielen schenken dem Film seine Lebendigkeit. Über weite Strecken ist das mitreißend und lebensfroh, wie in der ambitionierten Freibad-Choreografie zum Song "96 000", einem vom Musical-Altmeister Busby Berkeley inspirierten, modernen Wasserballett. An anderen Stellen wiederum erscheint der Film überladen, angestrengt Gegenwarts-geupdatet oder bedenklich verkürzt.

Denn natürlich ist die Sache mit der Diversität in Hollywood verzwickt. Im Kern geht es in Mirandas Stück um die Sichtbarkeit von Latinos im Speziellen und Einwandern im Allgemeinen. Das allein machte das Musical am Broadway - genau wie jetzt den Film - zu einer Besonderheit. Andererseits bedient sich seine Geschichte aber auch allerhand Stereotype, wenn auch positive: die spontanen Salsa- und Merengue-Partys, die satte karibische Küche, der offenherzige Sex-Klatsch im Schönheitssalon. Auch die Erzählungen von Integration und Identitätsverlust, von den fließenden Übergängen zwischen eigenen Traditionen und amerikanischem Traum kennt man bereits aus "West Side Story". Zwischendurch kann einen durchaus das Gefühl beschleichen, dass der Puerto-Ricaner Miranda sein Einwanderungsmärchen hier eigentlich durch die Augen des weißen Amerikas erzählt - oder zumindest für ein weißes Publikum.

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Zwar erzählt "In the Heights" mit viel Charisma und Präzision von den Konflikten im Viertel: von Gentrifizierungsprozessen und steigenden Preisen, von Aufstiegsdruck und rassistischen Aggressionen, und von der Resilienz der Einwanderer, die sich in dieser Umgebung behaupten. Gleichzeitig wird man das Gefühl nicht los, dass hier aber auch eine Chance vergeben wurde, auf der großen Leinwand von echtem, sozialem Widerstand zu erzählen - und nicht nur von Anpassung und Assimilation (und einem glücklichen Lottogewinn). Die Besitzerin des Schönheitssalons verkündet etwa, sie könne überall überleben, und verlässt am Ende ihren Laden in Richtung Bronx.

Denn in Mirandas fiktivem Bühne-Barrio sind die Veränderungen im Viertel genauso unausweichlich wie das Mantra, sich stolz auf seine kulturelle Identität zu beziehen. Am Ende feiert das Viertel mit wehenden Fahnen einen bunten Identitätskarneval, anstatt gegen Probleme vorzugehen. Glorifiziert wird das Durchhalten, die Opferbereitschaft, und das was die Matriarchin Abuela Claudia in "Paciencia Y Fe" ("Geduld und Glauben") besingt. So funktioniert der Film zwar als Musical, wiederholt aber die alten Geschichten, die Amerika über sich selbst erzählt.

In The Heights , USA 2021 - Regie: Jon M. Chu. Buch: Quiara Alegria Hudes. Musik: Lin-Manuel Miranda . Kamera: Alice Brooks. Schnitt: Myron Kerstein. Mit: Anthony Ramos, Melissa Barrera. Warner, 143 Min.

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