Nur Gundas Kopf ragt aus dem Stall, als sie ihre Babys zur Welt bringt. Sie wirkt schläfrig, fast unbeteiligt, bis die ersten flaumigen Winzlinge über ihren massigen Leib klettern und quiekend nach Zitzen suchen, während ihre Mutter immer noch neue Geschwister gebiert. Ein wuseliger Haufen zarter Schweinchen stürzt sich schließlich auf Gundas eindrucksvolles Gesäuge. Die Ferkel schubsen einander, stolpern übereinander, zerren an den Zitzen, schmatzen und quieken laut. Hoffentlich wird keines der Babys von Gundas Riesenkörper erdrückt. Mutterschaft ist niemals leicht.
Gunda "spielt" nicht im eigentlichen Sinn, und doch ist die Sau eine Charakterdarstellerin, die manche Schauspielerin blass aussehen lässt. Majestätisch leuchtet ihr haariges Profil im Gegenlicht, ihr Blick bleibt im Gedächtnis. Ihr massiger Körper strahlt Souveränität aus. Mit immer wieder neu und anders moduliertem Grunzen und Schnauben hält sie die Schar ihrer wimmelnden Ferkel in Schach.
Sind Tiere Individuen? Haben sie ein Bewusstsein, vielleicht eine Seele? Und welche Rechte haben sie? Über solche Fragen lässt sich wortreich philosophieren - man kann Tiere aber auch "nur" so respektvoll und empathisch anschauen, wie es Victor Kossakovsky in seiner wunderbaren Doku tut. "Gunda" ist ein Film, der seine Zuschauer verändert aus dem Kino entlässt, der Fleischindustrie dürfte er nicht gefallen. Auch ohne Kommentar und grausige Schlachtszenen lässt er sich nur als Plädoyer für Tierrechte und gegen das industrielle Töten verstehen. Schon die Kategorie "Nutztier" (in die auch Gunda fällt), ist ein Problem: Wofür hält sich der Mensch, Lebewesen auf ihren Wert für seine eigene Spezies zu reduzieren!
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Kossakovsky hat einen Kameramann, Egil Haskjold Larsen, aber er hat auch selbst gefilmt, die beiden haben sich für hochartifizielles Schwarz-Weiß entschieden. Die Kamera bleibt auf Schweineaugenhöhe, später kommen auch Hühner und Rinder dazu. Das nimmt den Bildern das Vertraute und Banale, lässt sie altmeisterlich wirken. "Gunda" ist das Porträt einer Sau als Mutter und Königin. Zu diesen Bildern passt die hyperrealistische Tonspur mit Gundas Grunzkommandos an die Ferkel und deren Quieken, später dem Summen und Brummen auf Wiesen und Weiden.
Der Regisseur trauert bis heute um sein Lieblingsschwein, das geschlachtet wurde
Als Vierjähriger sei das Schweinchen Vasya sein liebster Freund geworden, erzählt Kossakovsky, bis es getötet und zu Silvester als Schweineschnitzel serviert wurde. Er sei deshalb das (vermutlich) erste vegetarisch lebende Kind der Sowjetunion geworden. Seit 2002 lebt der gebürtige Russe in Berlin. "Ich will den Menschen helfen, den ersten Schritt zu machen, um den Akt des Tötens aus ihren Leben zu beseitigen", sagt er. Dafür ändert er die Perspektive, zeigt Tiere als Subjekte in ihrer Welt, als Persönlichkeiten mit Biografien und Gefühlen.
Aufwändige Kamerafahrten, lange Einstellungen, Zeitlupe und Nahaufnahmen adeln - und verrätseln - die Bilder vermeintlich unspektakulärer Haustiere. Wir sehen einen einbeinigen Hühner-Helden oder einen würdevollen Rinder-Rentner. Die Kamera als magisches Auge verändert den Blick. Das Staunen, das "Gunda" hervorruft, ist so frisch wie aus der Frühzeit des Kinos.
Um Gunda in ihrem Stall nicht zu stören, hatte Kossakovsky eine Kopie davon gebaut, mit beweglichen Wänden, wodurch die Filmemacher um sie herumgehen konnten, ohne selbst physisch anwesend zu sein. Auf diese Weise sind intime Beobachtungen wie die der Ferkelgeburt entstanden, die aber so diskret gefilmt ist, dass die Schweinewürde gewahrt bleibt. Schließlich geht es auch nicht um den Geburtsvorgang an sich, sondern um die Einfühlung in ein Schweineleben.
Kossakovsky hat auf einem Hof in Norwegen gedreht, außerdem auf Gnadenhöfen in Spanien und Großbritannien. Hühner mit kahlen Hälsen sind zu sehen, offenbar aus einer Legebatterie, die vorsichtig Krallenfuß um Krallenfuß auf eine Wiese setzen. Vermutlich haben sie Erdboden noch nie betreten. Eine Herde Kühe galoppiert ausgelassen auf eine Wiese - Bilder wie diese wirken beinahe biblisch. Kossakovky, das ist der spontane Eindruck, zeigt Tiere, wie Gott (oder die Natur) sie gemeint hat. Was natürlich eine Fiktion ist, einen anderen als den menschlichen Blick kann es im Film ja nicht geben.
Für seine Verklärung der Natur, der Teilnahmslosigkeit, mit der er auf Menschen blickt, wurde Kossakovsky immer wieder auch kritisiert, zuletzt bei seiner Film-Mediation "Aquarela" über das Element Wasser. Auch in "Gunda" blendet Kossakovksy Menschen lange aus. Bis ein Traktor mit einem Anhänger vor Gundas Stall vorfährt, ein vielstimmiges Quieken ertönt und ihre Babys mit einem Mal plötzlich verschwunden sind. Gunda sucht lange nach ihnen, ruft sie grunzend, blickt in den Stall und schnüffelt ihren Spuren im Heu hinterher. Ist es Kummer, was sie spürt, ähnlich dem unsrigen? Selbst wer nicht glaubt, dass ein Mensch einer Sau in die Seele blicken kann, spürt Mitleid mit der Mutter. "Stellen Sie sich Kreaturen vor", sagt Kossakovsy, "stärker als wir - eine Art Superheld, Außerirdischer -, intelligenter als wir, die uns unsere Babys wegnehmen, nachdem sie geboren sind, um sie zu füttern und dann zu töten. Das machen wir mit Tieren."
Gunda , Norwegen/USA 2020 - Buch, Regie & Schnitt: Victor Kossakovsky. Kamera: Egil Haskjold Larsen, V. Kossakovsky. Sound-Design und Schnitt: Alexandr Dudarev. Verleih: Filmwelt, 93 Minuten.