Am 19. Januar 2018 kündigte Mark Zuckerberg an, den Fokus von Facebook stärker auf lokale News und Gruppen zu legen. Damals hatte er sich an der Weltpolitik gerade die Finger verbrannt: Sein Unternehmen hatte Fake News verbreitet, Trump und dem Brexit damit unfreiwillig Schützenhilfe geleistet und stand nun unter politischem Druck. Zuckerbergs Antwort war ein Rückzug: Statt sich weiter in geopolitischen Auseinandersetzungen zu verstricken, wollte er in Zukunft lieber Neuigkeiten aus der Nachbarschaft verbreiten. Und statt Nutzer durch anonyme Trolle aufhetzen zu lassen, sollten sie mehr mit ihrer Familie, Freunden und Bekannten kommunizieren.
Doch nun verdichtete sich genau in dieser digitalen Nachbarschaft ein neuer politischer Protest: die Gelbwesten in Frankreich. Wenn ältere französische Facebook-Nutzer etwas veröffentlichen, schreiben sie gerne "ptg" (kurz für "partager", d.h. teilen, sharen) dazu - gefolgt von der Nummer ihres Départements. Und Gelbwesten-Gruppen nennen sich z.B. "Colère 36" - "Wut aus dem Departement 36". Als Facebook seinen Algorithmus änderte, verloren große Nachrichtenseiten massiv an Sichtbarkeit - die lokalen Wutgruppen dagegen wurden mit Traffic geradezu geflutet. Ihre Anliegen, nach denen zuvor kein Hahn gekräht hatte, hatten auf einmal ein riesiges Publikum. Ein neuer Aufstand artikulierte sich, mit kräftiger Hilfe von ein bisschen Code aus dem Silicon Valley.
Man könnte diese Entwicklung "agile Revolution" nennen. Der englische Begriff "agile" (beweglich, wendig) stammt ursprünglich aus der Softwareentwicklung und beschreibt eine neue Art der Zusammenarbeit: Statt Produkte ausgiebig zu planen, sie dann über Jahre zu entwickeln und lange "im Labor" zu testen, entwickelt man lieber schnell ein "Minimum Viable Product" - einen extrem simplen Prototypen. Dieses noch unausgereifte Produkt wird direkt auf die Nutzer im Netz losgelassen. Man beobachtet, was passiert und lernt aus den gewonnenen Daten. Dann veröffentlicht man einen neuen Prototypen - und immer so weiter. Permanent Beta, der ewige Testlauf. Der Vorteil: radikal verkürzte Innovationszyklen. Der Nachteil: Die Ingenieure richten ihre Produkt-Pipeline quasi direkt auf die Welt, machen sie zum Experimentierfeld und ihre User zu Versuchskaninchen.
Nicht nur die Menschen sind das Problem, sondern die Geschwindigkeit selbst
Und wie das so ist bei Experimenten: Es geht auch mal was schief. So wie bei den Gelbwesten: Als Zuckerberg sein Unternehmen aus dem politischen Tumult zurückziehen wollte, wurde der Algorithmus geändert - und der nächste politische Tumult ausgelöst. Facebook ist so groß, dass jeder "Pivot", also jeder strategische Kurswechsel, sofort massive Folgen nach sich zieht. In diesem Fall sogar Tote.
Die neuesten Enthüllungen aus dem Facebook-Universum bieten dafür nun eine recht verführerische Erklärung: Die Facebook-Führung hat moralisch versagt. Tatsächlich lassen die Nachrichten der vergangenen Wochen und Monate Facebook "wie ein Internet-Kartell mit nur einem Ziel" aussehen: "Geld verdienen und den Wettbewerb zerstören", so der Tech-Newsletter der New York Times. Damit wären auch die Probleme leicht zu lösen: Alles, was es braucht, um Facebook wieder weiß zu waschen und die Welt zu beruhigen, wäre neues Management.
Doch tatsächlich sind wohl nicht nur ein paar Menschen das Problem, sondern die Geschwindigkeit selbst. Facebook kann sein Unternehmensmotto "Move Fast and Break Things" noch so oft zurücknehmen, Zuckerberg kann sich tausendmal entschuldigen und sogar zurücktreten - es wird nicht das Geringste daran ändern, dass in einem unregulierten Wettbewerb immer die Schnellsten gewinnen.