Proteste in Frankreich:"Nein, Sire, das ist eine Revolution"

France's 'Yellow Vest' Protesters Return to Champs-Elysees

Kulturelle Autoaggression: "Gelbe Westen" am Wochenende in Rauch und Tränengasnebel am Arc de Triomphe.

(Foto: Veronique de Viguerie/Getty Images)
  • Das Erbe der Französischen Revolution ist Teil des nationalen Gedenkens.
  • Doch der Frontalangriff der "Gelben Westen" auf den Pariser Arc de Triomphe hat Frankreich am Wochenende schockartig in einen neuen Zustand versetzt.
  • Der Protest gleicht einem Gegenentwurf zum Programm Robespierres.

Von Joseph Hanimann

Das Land, das den Prototypen der modernen Revolution geschaffen hat, achtet streng auf den Unterschied zwischen Revolution und Aufstand. Seit den Vorstadtkrawallen 2005 stellt sich bei jedem Gewaltausbruch in Frankreich die Frage, womit man es genau zu tun habe. Fortan wird der berühmte Wortwechsel Ludwigs XVI. am Abend des 14. Juli 1789 mit dem Duc de Rochefoucauld - "Ist das gar eine Revolte?" ... "Nein, Sire, das ist eine Revolution" - rückwärts zitiert. Das macht die Sache eher noch unheimlicher.

Der Frontalangriff auf den Pariser Arc de Triomphe, das Denkmal der Siege von Kaiserreich und Republik über die Feinde, und das Bild vom Marianne-Relief mit dem zerschlagenen Gesicht hat Frankreich am Wochenende schockartig in einen neuen Zustand versetzt. Mit der Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution 1989 ist das revolutionäre Erbe auf eben jenen Champs-Élysées mit einem von Jean-Paul Goude choreografierten großen Volksfest endgültig besänftigt und zu den Schätzen des nicht mehr hinterfragbaren nationalen Gedenkens gelegt worden. Die Republik, dauerhaftes Ergebnis von 1789, wurde gerade in den vergangenen Jahren nach jedem Terroranschlag in offiziellen Reden und Gesten als Fundament des inneren Zusammenhalts beschworen.

Alle übrigen Gewaltausbrüche aus den eigenen Reihen der Nation wurden auf dem Konto der "Jacqueries", der seit dem Mittelalter auftretenden Bauernaufstände, verbucht. Die Republik wähnte sich ihnen gewachsen. Dieses Grundvertrauen scheint auf dem geradezu panisch wieder aufgeräumten Trümmerfeld zwischen Place de l'Étoile und Place de la Concorde brüchig geworden zu sein.

Dabei hat zumindest eine Figur aus dem revolutionären Gedächtnis unterschwellig weiterrumort. Anders als die mitunter fast schon zur Folklore verkommenen sonstigen Revolutionsführer blieb Maximilien de Robespierre, der Prinzipienreiter des Ideals und Impresario der Schreckensherrschaft, ein Streitobjekt zumindest unter Intellektuellen. Die einen, vor allem radikale Linke, wollten in ihm den - wenn auch dogmatischen - Garanten des revolutionären Programms sehen. Die anderen betrachteten ihn als Vorläufer sämtlicher Diktatoren des 20. Jahrhunderts. Wie viel Kompromisslosigkeit erträgt die Republik?

Diese umstrittene Figur Robespierres scheint neuerdings in den Horizont der ferneren Vergangenheit abzurücken. Die Gewaltausbrüche der "Gelben Westen" und der in ihrem Gefolge auftretenden Krawallkommandos bringen diesen Prozess allerdings auf einen seltsamen Schleuderkurs. Historiker wie Hervé Leuwers bemühen sich seit Jahren, Robespierre nicht einfach als missratenen Anwalt, gedemütigten Politiker und Monster der Revolution zu sehen. Sie unterscheiden zwischen dem auf Menschenrechte bedachten Anwalt in Arras, dem von Rousseau geprägten Mitglied der Generalstände und dem Machthaber, der die Zügel umso straffer zog, je mehr sie ihm entglitten.

Der im Herbst erfolgreich in den französischen Kinos angelaufene Film "Ein Volk und sein König" von Pierre Schoeller ging in dieselbe Richtung. Er zeigte Robespierre als zwar rigiden, aber bedächtigen Redner, der bedauernd von seiner prinzipiellen Ablehnung der Todesstrafe abrückte und für die Hinrichtung Ludwigs XVI. stimmte. Und der Philosoph Marcel Gauchet hat in seinem gerade erschienenen Buch "Robespierre" alles Wissen über dessen Person abgestreift und aus dessen Schriften zu rekonstruieren versucht, wie es möglich war, dass dieser Mann von der reinsten Überzeugung in rücksichtslose Gewaltherrschaft abgleiten konnte.

Die Proteste setzen auf das "Menschliche, allzu Menschliche"

Wie in einem Gegenentwurf scheint sich im gegenwärtigen französischen Volksprotest Gauchets Deutung der Figur Robespierres zu bestätigen. Der übersättigten Prinzipientreue des "Unbestechlichen", die keinen Schatten menschlicher Schwäche auf dem Ideal dulden wollte, steht bei den "Gelben Westen" ein demonstrativer Verzicht auf allgemeine Prinzipien gegenüber. Er setzt nur auf das "Menschliche, allzu Menschliche": weniger Steuern, bessere Löhne, mehr Verständnis der Regierung für persönliche Anliegen. Die Ungeduld führte im einen Fall zur Guillotine, im anderen zu fliegende Pflastersteinen. Im Vergleich dieser beiden Situationen werden Gauchets Ausführungen interessant.

Der ideologische Mehrwert von Robespierres Aktion habe darin gelegen, dass über die Menschenrechte zum ersten Mal das Prinzip der Legitimität ins Gesellschaftsleben eingeführt worden sei und als solches auch Gewaltanwendung gerechtfertigt habe, so Gauchet. Erst in ihrer "Verdoppelung" sei die Radikalität Robespierres zum Verhängnis geworden, schreibt er.

Wer oder was sollte die Macht des Königs ersetzen, als dieser plötzlich beseitigt war? Die Macht des Volks, aber unvermittelt, in Reinform. Nur war das "Volk" für Robespierre so abstrakt wie das Prinzip der Menschenrechte. Der Übergang vom Prinzip zur politischen Praxis musste auf eine Hypothese gestützt werden: jene von der natürlichen Tugendhaftigkeit des Volks, garantiert durch das von Robespierre postulierte gotthafte "höchste Wesen".

Von hier aus war Robespierres Weg ins Verderben, also in eine systematische Gewalt, in den Augen Gauchets nicht mehr aufzuhalten. Hingegen wendet der linksradikale Philosoph Alain Badiou ein, dass der Weg nicht ins Verderben geführt habe, sondern nur zur nächsten Etappe bei Marx. Dieser habe die Kategorie der Tugendhaftigkeit aufgegeben und das Volk als widersprüchliches Wesen begriffen.

Das Volk, das am Wochenende in Paris und anderen Städten quer durchs Land Feuer legte, Scheiben einwarf und Läden plünderte, trat nicht im Namen einer Tugendhaftigkeit auf, forderte keine "andere" oder "bessere" Welt. Im Unterschied zu den populistischen Bewegungen quer durch Europa gab es sich nicht einmal als "das Volk" aus. Es bestand aus lauter Einzelsubjekten, von denen jedes seine eigenen Gründe hatte, da zu sein, und seine eigene Art, die Gewalt zu rechtfertigen. Es waren Franzosen, die dem Allgemeinen in Gestalt von Regierung und Abgeordneten so sehr misstrauen, dass sie nicht einmal bereit waren, Wortführer aus den eigenen Reihen zu ernennen. Die einzige gemeinsame Forderung ist die nach Respekt, der sie mit Worten, Protesten, Verkehrsblockaden oder blinder Gewalt zum Ausdruck verhalfen, ohne jeden Anspruch auf Tugendhaftigkeit im Sinne Robespierres.

Darin offenbart sich ein schmaler Ausweg für Präsident Emmanuel Macron und seine Regierung. Er glaube nicht an die kollektive Tugend von Robespierre, erklärte Macron vor seiner Wahl, er glaube nur an die "römische Tugend", an den Anspruch jedes Einzelnen an sich selbst. Mit etwas mehr Respekt von seiner Seite wäre diese Tugend leicht zu haben.

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The message 'Macron Resign' is seen on the Arc de Triomphe as protesters wearing yellow vests, a symbol of a drivers' protest against higher diesel taxes, demonstrate at the Place de l'Etoile in Paris

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