In deutschen Wohnzimmern wird an jedem Adventswochenende in besinnlicher Keksstimmung eine weitere Kerze angezündet. In Frankreich dürfte in den kommenden Wochen deutlich mehr in Flammen aufgehen. Die Gewalt dieses ersten Dezembertages fühlt sich nicht an wie der Höhepunkt der Eskalation, sondern wie ihr Anfang.
Wenn Menschen in Westeuropa auf die Straße gehen, verläuft das für gewöhnlich so: Jemand meldet eine Demonstration an, alle marschieren auf der vereinbarten Route, am Ende kommt es zu Prügeleien mit der Polizei, und unter den gegenseitigen Schuldzuweisungen, wer zuerst provoziert habe, geht der Anlass des Protests unter. Die Krawalle in Paris brechen mit dieser Logik. Schon morgens flogen Steine und Tränengasgranaten. Es gab keine Sprechchöre und Plakate, es gab keinen Demozug, dem man sich anschließen konnte. Stattdessen spielten Tausende Guerilla. Die Proteste gerieten nicht außer Kontrolle - sie hatten gar nicht erst kontrolliert begonnen.
Das Chaos in den Straßen illustriert dabei das Chaos in den Köpfen. Was wollen diese Menschen in Warnwesten? Wer sind sie? In den Antworten auf diese Fragen lässt sich nicht das klare Bild einer Bewegung erkennen, sondern das Bild einer Gesellschaft, die zerfasert.
Das Feindbild der Demonstrierenden ist schnell benannt: Emmanuel Macron, Präsident im zweiten Amtsjahr. Eine seiner ersten Amtshandlungen war es, die Reichensteuer abzuschaffen. Es ist eine Entscheidung, die ihn jetzt mit Wucht einholt. Auch wenn der Protest von einer Benzinsteuer ausgelöst wurde, die in Teilen eine Ökowende finanzieren soll, wäre es Unsinn, von antiökologischen Protesten zu sprechen. Es geht nicht um die Frage, ob man für oder gegen eine Umweltpolitik ist, es geht darum, wer diese Politik finanzieren soll. Der ökologische Fußabdruck der zehn reichsten Prozent der Franzosen ist viermal so groß wie jener der 50 Prozent, die zur ärmeren Hälfte des Landes gehören. Es schürt den Zorn, dass Macron bei Letzteren ansetzt, nicht bei Ersteren.
Wer sich in diesen Tagen eine gelbe Weste überzieht, inszeniert einen der ältesten Kämpfe: Unten gegen oben. Diese Trennlinie verläuft nicht so eindeutig, wie in hysterischen Facebook-Posts behauptet wird. Doch die klare Überzeugung, David zu sein, während Macron den Goliath markiert, erklärt, warum viele der Westenträger so wenig von ihrem Zorn abzubringen sind und warum laut einer Umfrage mehr als 75 Prozent der Franzosen Sympathien für die "gilets jaunes" empfinden.
Dieser Kampf "Volk gegen Präsident" findet dabei in einer Art politischem Vakuum statt. Die Menschen mit den Westen sind zu unterschiedlich, um gemeinsame Forderungen formulieren zu können. Sie sind zu aufgebracht und, was Protest betrifft, zu unerfahren, um sich in lange Verhandlungsprozesse begeben zu können. So orientierungslos und provozierbar, wie sie am Samstag durch Paris irrten, so entwurzelt sind sie auch in ihren politischen Überzeugungen.
Zum ersten Mal in Frankreichs Fünfter Republik gehen Linke und Rechte gemeinsam auf die Straße. Das ist nicht die viel beschworene "convergence des luttes", das Zusammenfließen der Widerstände. Es ist die verspätete Quittung der völlig gescheiterten sozialdemokratischen Präsidentschaft des Macron-Vorgängers François Hollande. Der Klassenkampf ist zurück, und eine gemäßigte Linke hat in ihm keinen Platz mehr. Nationalistische Rechte hingegen schon.
Die Bewegung der Westenträger spiegelt wie eine verzerrte Fratze die versöhnenden Gesten Macrons. Ich bin weder links noch rechts, sagt der Präsident. Wir auch nicht, brüllt die Straße zurück. Macron inszeniert sich in seiner Abkehr von den politischen Lagern als pragmatischer Modernisierer. Die Menschen an Straßensperren und Barrikaden haben wie ihr Präsident das Vertrauen in die Volksparteien verloren. Doch in ihrer Enttäuschung wenden sie sich nicht Macron zu - sie wehren alles ab, was nach übergeordneter Autorität klingt. Parteien, Steuern, Medien, Polizei. Oder einfach nur die Idee, dass man eine Demonstration anmelden könnte.
Übrig bleibt eine destruktive Kraft. Die Proteste sind nicht nur bemerkenswert brutal, sie sind auch bemerkenswert unentschieden. Der einzige Slogan, auf den sich alle einigen können, lautet "Marchons, marchons". Es ist der Marschier-Refrain der französischen Nationalhymne. Nur marschiert gerade niemand in irgendeine Richtung. Weder Macron mit seiner Marschier-Partei, die den Rückhalt in der Bevölkerung immer mehr verliert. Noch die Menschen auf der Straße, die in einem wilden "Es reicht!" vereinigt sind.
Frankreich ähnelt in diesen Tagen einer Familie, mit der man ungern in drei Wochen unterm Weihnachtsbaum sitzen möchte. Macron gibt den strengen Vater, der viel von "Pädagogik" spricht, wenn er seine Politik erklärt. Und die, die er wie seine Kinder behandelt, benehmen sich auch so. Null Bock auf Papa und zugleich rasend wütend.