Wenn etwas gut gelaufen ist, steigen schnell die Erwartungen. Das Festival von Venedig hatte sich eine Weile eingependelt bei sehr schönen, wenn auch nicht immer sehr leicht verkäuflichen Filmen, galt aber als überschattet von der Konkurrenz in Toronto - weil die Amerikaner lieber dort ihre Premieren feierten. Dann aber trumpfte Venedig auf. 2013 gab es hier "Gravity", 2014 "Birdman" und 2015 "Spotlight" - drei Mal den jeweiligen Oscar-Abräumer in Folge, das müssen andere Festivals erst mal nachmachen. In Branchenblättern liest man jetzt Sätze wie "Sorry, Toronto!"
Man soll Festivals nicht vor dem zweiten Wettbewerbsfilm loben, aber der Einstieg dieses Jahr war auf jeden Fall ein Knalleffekt. Und nebenbei hat Venedig noch eine Erwartung erfüllt, die längst keiner mehr hatte: Ein gefühltes Jahrzehnt lang tat sich vor dem Festivalpalast ein Mondkrater auf, die trostlosen Überreste des Traums von einem neuen Palast - man hatte sich an die ewigen Bauzäune gewöhnt. Nun aber steht an der Stelle des Kraters tatsächlich ein neues, knallrotes Festivalgebäude mit Filmtheater. Die Eröffnung ist trotzdem überschattet, die Gala der Erdbebenopfer von Amatrice wegen abgesagt - normalerweise gibt es am ersten Abend eine Party für etwa tausend Gäste am Strand des Hotel Excelsior.
Das Schielen nach Hollywood birgt immer eine Gefahr
Damien Chazelles "La La Land" war als Eröffnungsfilm nun ganz sicher in der Hoffnung gewählt, bei der nächsten Preis-Saison wieder eine Rolle zu spielen - Chazelle ist eine der großen Hoffnungen des amerikanischen Kinos, sein zweiter Film war "Whiplash", über einen Jungen, der ein wahnsinnig guter Jazz-Drummer ist und bereit, fast alles zu tun, um ein noch besserer zu werden.
Das Schielen nach Hollywood birgt immer eine Gefahr. Wenn das hochglanztaugliche Aufgebot aus den USA zu gut funktioniert, zieht es zwar die Aufmerksamkeit aufs Festival, überschattet aber die großen Filmemacher, die man vielleicht sonst noch zu bieten hat: Immerhin wird im 73. Wettbewerb von Venedig auch ein neuer Film von Ulrich Seidl gezeigt, "Safari", und Wim Wenders ist dabei, der Peter Handkes Stück "Die schönen Tage von Aranjuez" verfilmt hat; Amat Escalante ("Heli") zeigt seinen Film "La region salvaje" und auch der neue Film von François Ozon, "Frantz", konkurriert um den Löwen.
Andererseits: Auch die Amerikaner setzen Akzente. Unter anderem mit Denis Villeneuves "Arrival", seinem Ausflug in die Science-Fiction, mit Amy Adams, Jeremy Renner and Forest Whitaker (Villeneuve arbeitet inzwischen an einem "Blade Runner"-Sequel). Amy Adams spielt auch, neben Jake Gyllenhaal, in "Nocturnal Animals" mit, vom Ex-Designer Tom Ford, ebenfalls im Wettbewerb. Und dann gibt es da noch einen neuen Film von Mel Gibson, "Hacksaw Ridge", über einen Soldaten, der sich im Zweiten Weltkrieg weigerte, Waffen zu tragen.
Es ist aber schon in den ersten Momenten von "La La Land" klar, dass es schwer werden wird, Chazelle zu überbieten - eine durchchoreografierte Sequenz zeigt einen Stau in Los Angeles, Menschen am Steuer, die ihren Träumen nachhängen, dann aus ihren Autos springen und zu einer grandiosen, hoffnungsvollen Musicalnummer zusammenfinden.
Ein Film über das Land, wo alles angebetet wird und doch nichts einen Wert hat
Der Film spielt im Los Angeles der Gegenwart, aber sein Herz schlägt für die Vergangenheit, und mit dem Verstand hat er die Zukunft fest im Blick. Er ist eine Hommage an die französischen Musicals von Jacques Demy, wo etwa Catherine Deneuve - "Die Regenschirme von Cherbourg"! - in Gesang ausbrach, in der ganzen Atmosphäre, den Farben; und er feiert den Jazz als nahen Verwandten des Kinos: ständig bedroht und doch bereit, sich immer wieder neu zu erfinden. Wenn alles richtig gut werden soll, dann fordert das seinen Preis. Emma Stone und Ryan Gosling spielen ein junges Paar in Lalaland, der weltfremden Traumfabrik - sie will Schauspielerin werden, er ist Jazzpianist.
"La La Land" ist wie Jazz, wirkt irgendwie spontan und ist doch harte Arbeit, und aus alten Versatzstücken entsteht immer wieder etwas Neues. Allein, wie Chazelle mit Zitaten umgeht, mit " . . . denn sie wissen nicht, was sie tun" etwa, oder "Casablanca" - genau dann, wenn man einen Bogart-Satz erwartet, fällt er eben nicht. Statt dessen lässt der Regisseur, der auch das Drehbuch geschrieben hat, Ryan Gosling dann Sätze von beachtlicher Weisheit über Hollywood sagen - beispielsweise, dass dort alles angebetet wird und doch nichts einen Wert hat. "La La Land" ist virtuos, John Legend, der auch richtig mitspielt, hat auf der musikalischen Seite daran sicher seinen Anteil. Man kann, sagt er da, den Jazz, die sterbende Kunst, nur retten, wenn man sie verändert.
Eigentlich erzählt Chazelle eine traurige Liebesgeschichte, von zwei Menschen, die sich ihrer Kunst opfern, selbst dann, wenn niemand sie hören oder sehen will - das ist bitter, und doch fühlt es sich richtig an. Ryan Gosling und Emma Stone sind großartig, mitreißend, herzerweichend. Wenn sie in ihren erfolglosen Vorsprechen loslegt, möchte man mitheulen, nur die Agenten sehen nicht hin. Die beiden sind vielleicht nicht die besten Sänger und Tänzer, aber in Kombination mit ihrem Spiel sind sie eben doch Weltklasse. "La La Land" wäre nicht die Hälfte wert, wenn hier nicht alle ständig etwas können müssten, in langen, ungeschnittenen, komplex choreografierten Sequenzen. Und obwohl dieser Film sich auf der Leinwand ausbreitet wie etwas, das noch nie da war, kann man an ihm wunderbar nachvollziehen, was so oft falsch läuft. Man kann künstliche Welten erschaffen und Stimmen in der Nachbearbeitung zur Unkenntlichkeit perfektionieren, aber etwas Echtes entsteht so nicht.
"La La Land" ist ein Weckruf nach einem sehr lauen Kinosommer mit kläglichen Zuschauerzahlen. Es geht ja doch! Der Jazz wird nicht sterben, sagt Gosling einmal, not on my watch - nicht, solange ich etwas dagegen unternehmen kann. Bei Chazelle gilt das auch fürs Filmemachen.