"Iphigenia" bei den Salzburger Festspielen:Alles und mehr

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Rosa Thormeyer als junge Iphigenia und das Klavier, das sie eigentlich liebt. (Foto: Krafft Angerer)

Ewelina Marciniak gilt als extrem fordernde Regisseurin. In "Iphigenia" in Salzburg aber kämpft sie mit ihren großen Ideen.

Von Christiane Lutz

Schwer zu sagen, was gutes Theater ausmacht. Man kann die Wirkung zwar beschreiben - "berührt", "vertraut und doch radikal neu", aber woran es am Ende liegt, ob ein Theaterabend auch wirklich abhebt, bleibt unergründlich. Bei Ewelina Marciniaks Theater ist es jedenfalls oft so, als verrücke sie lediglich ein paar Scheinwerfer, schon erscheint alles klar, neu, sinnig und immer ungeheuer elegant. Dramatische Fäden spinnt sie gelassen, sie kann ganze Handlungsstränge weglassen, und es fehlt nichts, weil sie den Kern der Geschichten spürt. Ihre Stücke sind dazu leicht zugänglich, und damit ist nicht nicht jene Popcorn-Konsumierbarkeit eines Simon Stone gemeint, von dem es ja hämisch heißt, er mache Netflix-Theater, sondern eher die eines perfekt komponierten Menüs. Kurz: Mies zu essen, ist bei Marciniak fast unmöglich.

"Ich hasse Schreiben, also konnte ich nicht über Theater schreiben. Ich bin eine schlechte Schauspielerin, also spiele ich nicht. Mein einziger Weg, mich im Theater auszudrücken, war also, Regisseurin zu werden", sagt Ewelina Marciniak in einem Gespräch Anfang August. 1984 wird sie in Polen geboren, studierte an der Jagiellonen-Universität in Krakau, im Anschluss Regie. Was pragmatisch klingt, verzaubert seit einiger Zeit Theaterdeutschland. Am Hamburger Thalia-Theater inszenierte sie "Der Boxer" nach Szczepan Twardoch und beeindruckend "Die Jakobsbücher" von Olga Tokarczuk, ihr beherzter Zugriff auf "Johanna von Orleans" am Nationaltheater Mannheim brachte ihr eine Einladung zum Berliner Theatertreffen. Und jetzt ist sie bei den Salzburger Festspielen mit "Iphigenia", wieder eine Koproduktion mit dem Thalia-Theater.

Auch bei "Iphigenia" gelingen ihr in der ersten Hälfte des Abends etliche starke Momente, wenngleich die Inszenierung am Ende nicht mit "Johanna" oder den "Jakobsbüchern" mithalten kann. Dafür ist die Versuchsanordnung vielleicht eine zu ambitionierte Kopfgeburt: Angelehnt an den antiken Text von Euripides und das Humanismus-Drama "Iphigenie auf Tauris" von Goethe hat Autorin Joanna Bednarczyk ein neues Stück geschrieben. Auf Wunsch von Marciniak sollte sie die Geschichte in die Gegenwart übertragen, also den Mythos vom Vater, der seine Tochter opfert, um im Trojanischen Krieg bei den Göttern günstige Winde zu bestellen.

Um den Vater zu schützen, schweigt Iphigenia über Missbrauch

Menschenopfer sind heute nicht mehr ganz in Mode, das führte also zu nichts. So kommen Marciniak und Bednarczyk zu dem Schluss, die meisten Opfer brächten heute Menschen, indem sie Teile von sich, ihres Seelenfriedens, ihrer Bedürfnisse aufgäben, um zu gefallen, um Ordnung nicht zu stören, Nahestehende zu schützen.

Und so opfert hier die aufstrebende Pianistin Iphigenia ihre Karriere, nachdem ihr Vater Agamemnon ihr Schweigen erzwungen hat. Onkel Menelaos (Stefan Stern) hatte Iphigenia jahrelang sexuell belästigt, sie will endlich die Wahrheit sagen. Blöd nur, dass Agamemnon, ein schnittiger Ethikprofessor (Sebastian Zimmler), kurz vor der Veröffentlichung eines Buchs über Täter, Opfer und "Me Too" steht. Wie sähe das aus, wenn der Missbrauch jetzt rauskäme. Von Mutter Klytaimnestra (Christiane von Poelnitz), einer erfolgreichen Schauspielerin, ist nichts zu erwarten. Wenn man es nur nicht zu groß werden lässt, rät sie der Tochter, hat es keine Bedeutung. Auch die Liebe zu Achilles (Jirka Zett) opfert sie in ihrem Kummer. Einzeln bricht sich Iphigenia alle Finger. So frei, so mutig, das kann man so machen.

Am Ende brennt das Klavier: Iphigenia hat ihre Karriere aufgegeben, um den Vater zu schützen. (Foto: Krafft Angerer)

Beiläufig jubelt Marciniak jede Menge Fragen unter: Warum glauben Menschen, Opfer bringen zu müssen, um gemocht zu werden? Sind es häufiger Frauen, die Bedürfnisse opfern, und wen oder was schützen sie damit? Wie geht die Gesellschaft mit Opfern um? Wie mit Tätern? Warum ist der Sohn, der seine Mutter umbringt, unter Umständen weniger unsympathisch als der Pädophile? Gibt es doch so etwas wie hehre Motive für Gewalt?

Auf einer simplen, weitläufigen Podestbühne (Mirek Kaczmarek) steht vor einem großen Spiegel nur ein Flügel wie in einem Musik-Institut. Immer wieder brechen die Schauspieler in Choreografien aus (von Dominika Knapik), auch eine markante Garnitur von Marciniaks Theater, als tanzten die Figuren, was sie nicht mit Worten sagen können. Das sieht großartig aus, ist vermutlich immens viel Arbeit herzustellen.

Regisseurin Ewelina Marciniak. (Foto: Natalia Kabanow)

Schauspieler, die mit Ewelina Marciniak gearbeitet haben, beschreiben sie als extrem fordernd, eine, die mit einem ausformulierten Plan auf die Probe marschiere. Die eigenen Ideen müssten hinten anstehen, sie macht Ansagen. In Zeiten, in denen am Theater diskutiert wird, ob man Intendanten oder Regisseure wegen zu viel Macht nicht eigentlich komplett abschaffen müsse, erscheint ein so energischer Führungsstil eher verdächtig. Weiß sie das? Marciniak lacht verlegen: "Früher wollte ich immer alles, hier und jetzt und sofort, jetzt gebe ich mir mehr Zeit, mehr Geduld, damit die Menschen, mit denen ich arbeite, mir folgen können. Sie sollen immer mehr freudig aufgeregt denn eingeschüchtert sein." Regisseure und Direktoren sollten nicht verbannt werden, aber doch besser kommunizieren, denn "wie problematisch Macht sein kann, wissen wir schließlich von Shakespeare!"

Gewalt, sagt sie noch, sei nichts, was sie auf der Bühne reproduzieren wolle, aber sie muss sie doch zeigen, um über sie zu sprechen. Und das bringt einen dann auch wieder zurück zu "Iphigenia": Wortreich faltet das großartige Ensemble des Thalia-Theaters das psychologische Familiendrama um Gewalt, Macht, ihren Missbrauch und das Opfer auf, schildert das Dilemma, festzustecken mit Menschen, die einem wohlgesonnen sein sollten und die, so Menelaos, "immer moralisch handeln müssen". Iphigenia (die junge Version großartig gespielt von Rosa Thormeyer, die gealterte ebenso von ihrer Mutter Oda Thormeyer) lässt an ihrem Schmerz teilhaben, ohne sich als Opfer zu überhöhen, zeigt ihre Wunden.

Am Schluss sind es der offenen Enden zu viele, es gibt kein Weiterkommen

Die letzte Stunde spielt 20 Jahre später auf der Insel, auf die sich Iphigenia zurückgezogen hat. Die Spirale der Gewalt konnte sie nicht durchbrechen, Traumata und der Vater verfolgen sie noch immer. Als ihr Bruder Orestes auftaucht, erkennt sie ihn schließlich und in ihm den Mörder der Mutter, doch auch in der Begegnung liegt kein Trost. Iphigenia bleibt zurück, gebrochen vor der Erkenntnis, dass es offenbar kein Weiterkommen gibt. Und da zerfranst das ganze entschlossene Konzept, Marciniak scheitert auf den letzten Metern an ihren eigenen Ansprüchen, Diskurs, Zeitgeist und doch zumindest Motive aus dem antiken Mythos stimmig zu etwas Neuem zusammenzufügen. Es sind der offenen Enden zu viele, und der Anlauf, mit dem sie in eine Geschichte gestartet ist, die eigentlich nach Befreiungsschlag schreit, endet damit, dass das Klavier brennt. Aber selbst das sieht wunderschön aus.

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