Entscheidung bei der Berlinale 2016:Mut zur Unwissenheit

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Freute sich als Dokumentarfilmer schon, überhaupt in den Wettberb der diesjährigen Berlinale zu gelangen. Nun hat er ihn gewonnen: Gianfranco Rosi, Regisseur des Siegerfilms "Fuocoammare" mit dem Goldenen Bär. (Foto: dpa)

Gianfranco Rosi holt sich bei der Berlinale den Goldenen Bären. Allegorisches Erzählen war in diesem Wettbewerb aus Sicht der Jury Trumpf - nicht immer zu Recht.

Von Paul Katzenberger, Berlin

Wenn ein Dokumentarfilm in einem Spielfilmwettbewerb den Hauptpreis gewinnt, legt das zwei mögliche Schlussfolgerungen nahe. Entweder der Dokumentarfilm war so genial gemacht, dass er die Spielfilme trotz deren größerer künstlerischer Gestaltbarkeit übertrumpfte. Oder die Spielfilme waren einfach alle schlecht.

Die Auszeichnung des Dokumentarfilms "Fuocoammare" von Gianfranco Rosi mit dem Goldenen Bären dieser Berlinale war ein bisschen Ausdruck beider Ahnungen: Die Doku über die Flüchtlingsinsel Lampedusa erwies sich als sehr gelungener Beitrag eines ansonsten aber mittelmäßigen Wettbewerbs.

"Fuocoammare" hob sich besonders dadurch heraus, dass Rosi auf eine Überdramatisierung der Situation auf der Insel verzichtet, obwohl auf ihr in den letzten Jahren 450 000 Menschen aus Afrika gestrandet sind, von denen viele vor dem Ertrinken gerettet wurden - aber viele auch nicht: Circa 15 000 Menschen verloren ihr Leben.

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Doch den Tod thematisiert Rosi in "Fuocoammare" nur am Rande, im Wesentlichen zeigt er das Leben auf der zugigen Felseninsel zwischen Tunesien und Sizilien aus der Perspektive des zehnjährigen Fischerssohnes Samuele und findet in dessen Sehschwäche auf dem linken Auge eine geniale Metapher für seinen Film: Alles, was Samuele auf seinem rechten Auge deutlich wahrnehmen kann, zeigt auch Rosi als das, was klar erkennbar ist: vor allem, die einstudierten und professionellen Abläufe bei der italienischen Marine im Einsatz für die Bergung von Flüchtlingen.

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Träges Auge als starke Allegorie

Was Samuele auf seinem linken Auge nur verschwommen sieht, ist bei Rosi die ungewisse Zukunft der Inselbewohner, die sich jäh mit einer globalen Problematik konfrontiert sehen, deren Lösung lediglich in den Sternen des Mittelmeerhimmels zu stehen scheint.

Das träge Auge Samueles ist eine starke Allegorie für die brennend aktuelle Unsicherheit, die viele Menschen im Zusammenhang mit dem Flüchtlingsthema empfinden. Dass die diesjährige Berlinale-Jury unter Meryl Streep dies würdigen würde, war von den meisten Beobachtern erwartet worden.

Die offensichtliche Vorliebe der diesjährigen Juroren für allegorisches Erzählen sorgte allerdings schon beim inoffiziellen zweiten Preis des Festivals - dem Silbernen Bären für den Großen Preis der Jury - für eine echte Überraschung. Denn Danis Tanovics bosnisches Gesellschaftspanorama "Tod in Sarajevo" hatten die wenigsten Kritiker als Preisfavoriten auf der Rechnung.

Der Oscar-Preisträger von 2001 wolle in seiner Satire zu viel auf einmal über die Zustände in dem ethnisch und politisch noch immer tief gespaltenen Land erzählen, hieß es. "Tod in Sarajevo" sei "Wikipedia im Film".

Die Jury sah es anders - durchaus zu Recht. Denn Tanovics Rundumschlag, der ein Luxushotel Sarajevos vom Keller bis zum Dach mit europäischer Geschichte vollpackt, erschöpft sich nicht im Didaktischen, sondern ist sogar unterhaltsam und oft bitterböse.

Als weit weniger kurzweilig erwies sich bei dieser Berlinale Lav Diaz' Monumentalfilm "A Lullaby to the Sorrowful Mystery" über die Revolution auf den Philippinen im ausgehenden 19. Jahrhundert, dem die Jury einen Silbernen Bären (Alfred-Bauer-Preis) zuerkannte.

Allegorisch ist auch "A Lullaby", doch es drängte sich der Eindruck auf, dass Diaz die Auszeichnung nur bekam, um die Berlinale-Macher zu rehabilitieren. Die hatten großen Mut damit bewiesen, das achtstündige Epos des eigenwilligen Filmemachers in den Wettbewerb zu hieven.

Harte Realität im privaten Bereich

Als Superlativ in den Medien ( "Längster Wettbewerbsfilm aller Zeiten") funktionierte das auch. Aber Jurys sollten sich von solchen Coups nicht beeinflussen lassen. Das extrem langatmige Werk von Diaz über das Trauma des philippinischen Befreiungskampfes, das ein Außenseiter kaum nachvollziehen kann, hatte keinen Preis verdient, aber medial verwertbare Höchstleistungen (acht Stunden) zählen eben auch bei Filmfestivals.

Der politischen Dimension der Berlinale als politischstes der drei Großfestivals neben Cannes und Venedig entsprach die Jury mit den Vergaben der drei wichtigsten Preise so einmal mehr.

Der Fokus des Wettbewerbs hatte in diesem Jahr allerdings auf der harten Realität im privaten Bereich gelegen - und die weiteren Preise gingen vornehmlich an Filme, die dieses Kernthema adressierten.

Neue Leere, neue Freiheit

Mia Hansen-Løve, steigender Stern des französischen Arthouse-Kinos, holte sich im Berlinale-Palast den Silbernen Bären für die beste Regie ab - auch das war verdient. Denn ihr neuer Film "L'avenir" ("Die Zukunft") über eine Frau aus dem gehobenen Bürgertum, die von ihrem Mann nach dem Übersteigen der Lebensmitte wegen einer Jüngeren verlassen wird, interpretiert diesen Verlust auf hoffnungsvoll pragmatische Weise: So schmerzhaft die überraschend eingetretene Leere für die Philosophie-Lehrerin Nathalie ist, so sehr kann die neue Freiheit ihr Leben auf andere Weise erfüllen.

Isabelle Huppert, die Nathalie sehr überzeugend verkörpert, hätte dafür den Silbernen Darstellerinnen-Bären ebenso verdient gehabt wie Hansen-Løve ihre Auszeichnung als Regisseurin des Films.

Doch auch Trine Dyrholm, die den Silbernen Bären als beste Schauspielerin des Wettbewerbs erhielt, war die erwartet würdige Preisträgerin. Ihre Darstellung der Weltverbessererin Anna, die in Thomas Vinterbergs Film "Die Kommune" an ihrem Idealismus zerbricht, zeigt den elementaren Widerspruch auf, den jeder Mensch als Individuum und als soziales Wesen in sich trägt.

Scheitern in der neuen Rolle

Anna stellt sich dem Dilemma bis zu einem Punkt, der ihre geistige Gesundheit ruiniert - was Dyrholm ergreifend zeigt.

Überraschend fiel die Entscheidung der Jury hingegen beim Silbernen Bären für den besten Darsteller aus: Majd Mastoura spielt in dem tunesischen Wettbewerbsbeitrag "Hedi" einen jungen Mann, der den Zwängen und Konventionen eines vorbestimmten Lebens in einer traditionellen tunesischen Familie zu entfliehen versucht.

Mastoura zeigt den Ausbruchsversuch zwar in herzerweichender Weise auf, doch auch Bjarne Mädel verkörperte in "24 Wochen", dem einzigen deutschen Wettbewerbsbeitrag dieses Berlinale-Jahrgangs, überzeugend einen modernen Mann mit neuem Rollenverständnis - doch der Film ging vollkommen leer aus.

Als klar wird, dass das von ihm und seiner Frau erwartete Kind schwerbehindert sein wird, setzt er sich ohne Rücksicht auf Verluste für das Leben des Kindes ein, doch ähnlich wie Hedi scheitert auch er.

Die westliche Welt steht vor neuen Herausforderungen - im Konflikt etwa mit den arabischen Ländern, der Hilfe für Flüchtlinge oder der modernen Medizin, die dem Menschen ganz neue moralische Bewertungen abverlangt. Lösungsansätze gibt es oftmals keine - doch womöglich liegt der erste Schritt darin, sich das zunächst einzugestehen. Gianfranco Rosi hat diese Haltung in diesem Jahr einen Goldenen Bären eingebracht.

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