"Fuocoammare"-Sieg bei der Berlinale:Nicht überraschend, trotzdem richtig

66. Berlinale · Preisträger

Freute sich über den goldenen Bären für seinen Dokumentarfilm "Fuocoammare" - und holte alle auf die Bühne, die ihm einfielen: Gianfranco Rosi.

(Foto: dpa)

"Fuocoammare" bekommt den goldenen Bären. Die anderen Filme auf der Berlinale hatten gegen die Flüchtlings-Doku keine Chance.

Von Ruth Schneeberger, Berlin

Es soll ja Menschen geben, die das Wort "Flüchtlingskrise" nicht mehr hören können. Diese werden über die Entscheidung der Berlinale-Jury nicht glücklich sein. Wer allerdings die italienische Flüchtlingsdoku "Fuocoammare" gesehen hat, der versteht, warum sie Samstagnacht mit dem Goldenen Bären zum Siegerfilm der Berlinale gekürt wurde: Man kommt schlicht nicht drumherum.

Ja, es hätte andere Filme gegeben, die den goldenen Bären 2016 verdient hätten. "24 Wochen" etwa, der einzige deutsche Film im Wettbewerb, ein anrührendes Familiendrama um ein ungeborenes behindertes Kind. Ein wichtiges, unterschätztes Thema, dazu mit Julia Jentsch und Bjarne Mädel ein grandioses Schauspielerduo. Ginge es um Ästhetik, hätte "Genius" gewinnen können, der Film über den Durchbruch des US-Schriftstellers Thomas Wolfe, schön irre gespielt von Jude Law, groß herausgebracht in den 1920er Jahren von seinem britischen Lektor, den Colin Firth bezwingend zurückhaltend meistert.

"Nach dem Holocaust vielleicht die größte Tragödie"

Doch wir stecken derzeit nun einmal mitten in einer großen Flüchtlingskrise, und längst ist dazu noch nicht alles gesagt. Das zeigt "Fuocoammare" ("Feuer auf dem Meer") von Gianfranco Rosi sehr anschaulich. Seine Doku von der Insel Lampedusa, wo seit vielen Jahren unzählige Geflüchtete ankommen, tot oder lebendig, ist ein wertvoller zeitgeschichtlicher Beitrag dazu, dass "wir nach dem Holocaust vielleicht gerade eine der größten Tragödien erleben, die die Welt je gesehen hat", wie der 51-jährige Regisseur auf der Pressekonferenz zu seinem Film sagte.

Was sein Film vor allem leistet, ist die Veranschaulichung der Dualität, die das Flüchtlingsdrama begleitet. Da stranden echte Menschen in Italien, gar nicht so weit von Deutschland entfernt. Sie haben 1500 Dollar gezahlt für einen Platz an Deck eines Schlepperbootes, 1000 Dollar für einen Platz im Rumpf oder 800 Dollar für einen Platz im Bug eines solchen Bootes. Weil es dort unten entsetzlich heiß werden kann, wenn fast 500 Menschen ein kleines Boot bevölkern, das sieben Tage lang auf See ist, kommen immer wieder viele Leichen auf Lampedusa an. Kranke Kinder, gerade gestorbene schwangere Frauen, verdurstende Männer mit zuckenden Leibern. Weinende Witwen. Totgeborene Flüchtlingsbabys.

Das Leben zwischen Humor und Tod

Aber trotz all dieses Leids geht das Leben der Bewohner von Lampedusa ja weiter. Das zeigt Rosi ganz zauberhaft und liebevoll anhand seiner Protagonisten. Allen voran ein kleiner frecher Junge, der Fischer werden will, auf einem Auge nichts sieht und beim Pasta-Essen unerhört laut schlürft. Er hat mit den Flüchtlingen genauso wenig zu tun wie der Radiomoderator, der immer wieder romantische Lieder spielen soll auf Lampedusa. Nur der Arzt, der den Film übrigens initiiert hat, indem er Rosi von seinen Erlebnissen erzählte, wird in Kontakt mit den Geflüchteten gezeigt. Wie er hoffnungsvoll eine Schwangere untersucht. Und wie er so fassungslos wie gefasst davon erzählt, dass er toten Kindern zur Identifizierung Gliedmaßen oder ein Ohr abschneiden muss - und davon Albträume bekommt.

Zupackende Selbstverständlichkeit

Auch Einsatzkräfte werden gezeigt, die halbtote Menschen aus dem Wasser und von den Booten bergen. Wie sie mit Mundschutz und in ihren Schutzuniformen fast wie Aliens wirken, die die Geflüchteten mit stoischer Ruhe empfangen. Alle Gezeigten begegnen den fremden Hilfesuchenden mit einer zupackenden Selbstverständlichkeit, die dem Zuschauer Bewunderung entlockt. Wer bisher dachte, auf Lampedusa herrsche Chaos, der wird hier eines Besseren belehrt.

Ein afrikanischer Flüchtling stimmt ein Klagelied darüber an, dass die Flüchtlinge schon in ihrer Heimat unerwünscht waren - geschweige denn in Libyen, wo sie ins Gefängnis gesteckt und gefoltert wurden. Wer das überlebt, dem kann das Meer nichts mehr anhaben, singt er trotzig. Denn immerhin: Er hat das alles überlebt. Jetzt ist er frei - glaubt er.

Mehrere Männer liegen auf einem Rettungsboot. Sie sind dem Tod gerade entronnen, halb verdurstet und verhungert. Nur bei einem ist nicht klar, ob er den Tag überleben wird. Ein anderer wurde auf dem Boot geschlagen. Über sein Gesicht läuft eine blutige Träne.

Und dann ist da immer wieder der kleine italienische Junge, der die Zuschauer zum Lachen bringt. Altklug ist er, wie ein Alter palavert und gestikuliert er. Eine Szene beim Arzt gerät zum Slapstick, als der ihm sagt, dass er ein kleiner Hypochonder sei.

Es sind diese beiden Antipoden, die dem Film seine Tiefe verleihen: Auf der einen Seite der Humor und das unbeschwerte, manchmal langweilige und strukturierte Leben - auf der anderen das grauenvolle Schicksal vertriebener oder geflohener Menschen, die mit viel Glück nichts mehr als das blanke Leben haben. Und immer wieder bricht auf Lampedusa die eine Welt in die andere ein.

Keine Zahlen, kein Kommentar

Dass in diesem Film trotzdem das Hauptaugenmerk auf den alteingesessenen Bewohnern liegt, ist so ungewöhnlich wie wertvoll: Normalerweise sind es die Neuankömmlinge, über die berichtet wird. Hier sind es die italienischen Bewohner, von denen die einen sehr viel, die anderen gar nichts mit den Flüchtlingen zu tun haben. So wie im Rest von Europa - noch.

In Rosis Film erfahren wir nichts von den großen Zusammenhängen, die diese Menschen in Massen vor Lampedusa stranden lassen. Es fallen weder Zahlen, noch gibt es eine Bewertung des Problems. Nichts daran ist journalistisch, alles ist rein dokumentarisch - und ein kleines bisschen poetisch, wenn das Meer tost oder der Junge mit einem Vogel spielt. Dieser Film entwickelt eine Wucht, die kein Kommentar entwickeln könnte. Und ist genau deshalb seit 60 Jahren die erste Doku, die mit einem goldenen Bären ausgezeichnet wurde.

Bleibt nur zu sagen: Recht so. Auch wenn die Auszeichnung alles andere als überraschend ist: Es war die richtige Entscheidung der Jury des ohnehin politischsten aller Filmfestivals unter Vorsitz von Meryl Streep. Denn "Fuocoammare" ist keine einfache Flüchtlings-Doku. Der Film fängt das Leben in all seiner Widersprüchlichkeit, Grausamkeit und Schönheit ein, wie es immer schon war. Dass der dringlichste Anlass derzeit nun einmal die Flüchtlingskrise ist, dafür kann Gianfranco Rosi ja nichts.

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