Comics aus Russland sind hierzulande eine Rarität. "Surwilo" von Olga Lawrentjewa wirkt deshalb wie ein überraschender Besucher, ein wenig willkommener noch dazu: Will man in diesen Zeiten, in denen Russen Ukrainern so viel Leid antun, wirklich von russischen Traumata lesen?
Im Fall dieser Graphic Novel kann die Antwort nur lauten: Unbedingt! Olga Lawrentjewa entwirft ein Panorama der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, das am Beispiel ihrer eigenen Familie aufzeigt, welche Verwüstungen ein Krieg und die Herrschaft eines paranoiden, autokratischen Führers anrichten können. In ihrem Comic sind es der stalinistische Terror und die Belagerung Leningrads, die sie und eine ganze Generation traumatisieren, Parallelen zur Gegenwart aber sind nicht zu übersehen.
In jedem Moment, das ist die Erfahrung dieser Jugend, kann ein Mensch für immer verschwinden
"Das Unglück ist immer ganz nah. Ich weiß das. Seit damals." So beginnt die Erzählerin, Lawrentjewas Großmutter Walentina, ihren Rückblick: auf die stalinistische Säuberungsaktion, der ihr Vater zum Opfer fiel; auf das Leben der Familie in der Verbannung, der Ächtung selbst durch die eigene Familie. Schließlich auf den Krieg und die Blockade Leningrads, die Walentina als Albtraum aus Hunger, Schlafmangel und Erschöpfung wie im Tunnel erlebt. Sie arbeitet während der Belagerung als Krankenschwester und pflegt Soldaten, die wie die Fliegen sterben, neben und mit ihnen sterben auch die Schwestern. In jedem Moment, das ist die Erfahrung dieser Jugend, kann ein Mensch in ihrer Nähe, ein geliebtes Mitglied ihrer Familie und könnte auch sie selbst für immer verschwinden. Die mörderische Blockade und der frühe Verlust des Vaters, von dessen Schicksal lange niemand etwas erfährt, zeichnen sie fürs Leben. Als sehr viel später ihre Enkel Pilze sammeln und dabei "verschwinden", ist die alte Walentina einer Panik nah.
Die Bilder von "Surwilo" sind schwarz-weiß und so konkret, dass biografische und historische Gegebenheiten erkennbar sind. Sie sind, vor allem in heiklen Momenten aber auch abstrakt genug, um sich dem Schrecklichen, das Walentina erlebt, mit der nötigen Distanz, dem nötigen Respekt vor dem im Grunde Unvorstellbaren anzunähern. Wenn etwa der Vater der damals 12-jährigen Erzählerin "geholt" wurde, wie es nach der Verhaftung heißt (sehr viel mehr erfährt die Familie bis zur Perestroika nicht) - ragen schwarze Zacken wie Zähne in ein Panel, im Weißraum sind Beschwichtigungen der Nachbarn zu lesen: "Natürlich ein Fehler, die klären das bald..." Anschließend zeichnet Lawrentjewa schwarze Tuschestriche, die sich als Meer von Tränen deuten ließen, wenn dieses Sprachbild nicht zu banal und kitschig wäre für die fast abstrakte Darstellung einer Trauer, die sich ins Grenzenlose ausbreitet. "Meine Kindheit war mit 12 Jahren vorbei im November 1937", heißt es dazu lakonisch.
Später in Walentinas Leben, während der Leningrader Blockade, lösen sich schon mal die Umrisse einer Figur wie weggewaschen auf, wenn diese am Hunger stirbt. Und die Nächte der Krankenschwester, allein als Frau mit vielen Verwundeten, ausgezehrt und erschöpft, ist ein schwarzer Tunnel, aus dem nur Details aufleuchten: die Rufe der Soldaten, die nach der Schwester verlangen oder das schwache Licht der einzigen Öllampe, die den Nachdienst erleuchtet. Es sind solche Details, die eine Ahnung hinterlassen, wie diese Blockade war, was Krieg bedeutet, für diejenigen, die ihn erleiden. Und gerade die Andeutung, der nicht zu Ende ausformulierte Schrecken hinterlässt den nachhaltigsten Eindruck. Als etwa Walentina am Ende des Winters in einem Schuppen aufbewahrte, gefrorene Leichen auf einen Transporter laden muss, bevor die toten Körper auftauen, tauchen die grauenhaften Details dieser Arbeit wie Schockmomente aus der Schwärze der Zeichnungen auf: Hier ein Kopf, da eine Hand, dick schraffierte schwarze Striche signalisieren die aufeinandergestapelten gefrorenen Körper. Schließlich ist Walentinas sich verdunkelndes Gesicht zu sehen, während sie wie ein Kind zu ihrer (vor geraumer Zeit verstorbenen) Mutter spricht: "Mama, ich will keine Leichen schleppen ... Ich will nach Hause!"
Das Buch wirkt zeichnerisch wie aus einem Guss, dabei ändert Lawrentjewa immer wieder alles Mögliche: den Seitenaufbau oder den Grad der Abstraktion. Mal arbeitet sie Gesichter zu eindrucksvollen Porträts aus, dann tupft sie impressionistisch eine Wiese hin oder lässt einen jahrzehntealten Bombentrichter zum schwarzen Zeittunnel werden, der die Großmutter Walentina von einem Panel zum nächsten zurück zum Beginn des Krieges führt, von dem sie anschließend ihren Enkeln erzählt. Großartig sind diese Zeichnungen alle - neben dieser eindrucksvollen, zutiefst humanistischen Erzählung ein weiterer Grund, die russische Comicautorin auch hierzulande zu entdecken.