Die besten Comics für den Herbst:Schön und grausam wie im Märchen

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(Foto: Bearbeitung: SZ)

Die Comics, die wir empfehlen, erzählen vom Großwerden in der DDR, von gewöhnlichem Antisemitismus in Frankreich und fantastischen Reisen.

Von Moritz Baumstieger, Fritz Göttler und Martina Knoben

Sandra Rummler: Seid befreit

Mo wächst in einem Haus an der Mauer auf, manchmal laufen Grenzpolizisten über ihren Dachboden. Der Westen ist nah und doch unerreichbar, ein Ort der Fantasie. In ihrer autobiografisch geprägten Graphic Novel erzählt Sandra Rummler von ihrer Kindheit in der DDR, und wie sie als Jugendliche den Fall der Mauer, den harten Systemwechsel erlebt. Eines Tages ist die DDR-Fahne an ihrem Haus zerrissen, dann ist die Mauer plötzlich weg. Mo kann in den Westen, sie genießt die Freiheit, ist aber auch überfordert und immer wieder völlig geflasht: "Bunte Murmeln fielen aus meinem Kopf und rollten durch die Stadt." Rummler zeichnet Mo als Schablonenmädchen, flächig, ohne Perspektive. Umso farben- und nuancenreicher malt die 1976 in Ost-Berlin geborene Comiczeichnerin (die auch als Illustratorin und Fotografin arbeitet) ihre Hintergründe aus. Es sind wunderschöne Aquarelle, in denen der Osten düster aber auch ruhig und verlässlich wirkt, der Westen dagegen oft wie ein grellblinkendes Warenhaus, darin das Schablonenmädchen, das mit keiner der Welten wirklich verbunden ist. Ein tolles Debüt! Martina Knoben

Sandra Rummler (Text und Zeichnungen): Seid befreit. Avant Verlag, Berlin 2023. 264 Seiten, 29 Euro. (Foto: Avant)

Hayao Miyazaki: Shunas Reise

Eine Fruchtbarkeitserzählung, frei nach einem tibetischen Volksmärchen. Der Prinz Shuna macht sich auf mit seinem Wüstenreittier, einem Yakkul, um goldenen fruchtbaren Gerstensamen zu suchen für sein hungerndes Dorf. Hayao Miyazaki hätte von Shuna gern in einem Film erzählt, konnte den aber nicht finanzieren und veröffentlichte "Shunas Reise" 1983 als Buch - nun ist es auf deutsch erschienen. Keine Comic-Sprechblasen, aber Momente einer langen Reise von schöner filmischer Unerklärlichkeit, die streckt sich erst Monate lang, später dann beschleunigt sie sich auf erschreckende Weise, im Land der Göttermenschen, wo der Mond geboren wurde und zum Sterben zurückkehrt. Shuna kommt an einem Schiff aus Holz und Stein vorbei, es war gewiss kein einziges Mal ausgelaufen, jetzt sah es seinem Zerfall entgegen, an steinernen Götterstatuen und riesigen Felsgerippen - wie immer bei Hayao Miyazaki weiß man nicht, stammen sie aus einer toten Vergangenheit oder aus einer unerzählbaren Zukunft. Eine Ahnung von Vergeblichkeit liegt über dem Buch, am Ende hat Shuna alles verloren, die Sprache, die Erinnerung, die Identität ... nur das Mädchen Thea kann ihn noch retten. Zwei Jahre nach Erscheinen wurde das legendäre Anime-Studio Ghibli gegründet, mit dem Hayao Miyazaki und seine Mitabeiter ihre unvergesslich schönen Zeichenfilme schufen. Fritz Göttler

Hayao Miyazaki: Shunas Reise. Comic. Aus dem Japanischen von Nora Bierich. Reprodukt, Berlin 2023. 160 Seiten, 20 Euro. (Foto: Hayao Miyazaki / Reprodukt)

Anke Feuchtenberger: Genossin Kuckuck

Eine Heimat wie im Märchen - schön, aber auch finster und oft grausam. Für einen "Westkaugummi" wird Kerstin von ihrer besten Freundin Effi verraten. Der nette Opi Grund füttert seine Tiere aus Schüsseln, auf deren Grund sich ein Hakenkreuz befindet. Schneckenmädchen tragen vertrocknete Artgenossinnen zum Wasser. Der Hündin Mona wird von einem Keiler der Bauch aufgeschlitzt. Und über vieles wird eisern geschwiegen. Was damals die Russen, "unsere Befreier", mit den im Keller versteckten Frauen gemacht haben zum Beispiel. So viel Gewalt und verdrängte Sexualität! Über 13 Jahre hat Anke Feuchtenberger an ihrem Opus magnum gearbeitet, während sie, als Professorin an der HAW Hamburg, die deutsche Graphic Novel Szene prägte wie keine andere. Ein irres Werk ist "Genossin Kuckuck" geworden: ein knapp 450 Seiten langer Traum und Albtraum über eine Kindheit in der DDR - und die unheimliche Natur des Menschen. Gezeichnet ist diese Bildererzählung hypnotisch schön, sehr sinnlich, verführerisch sieht vor allem die Natur, sehen Pflanzen und Tiere aus. Eine Aufforderung einzutreten in diesen Kosmos, zu verstehen, (mit) zu fühlen, sich in dieser gefährlichen, schönen Welt zu verlieren. Martina Knoben

Anke Feuchtenberger: Genossin Kuckuck. Reprodukt, Berlin 2023. 448 Seiten, 44 Euro. (Foto: Anke Feuchtenberger / Reprodukt)

Michel Houellebecq, Louis Paillard: Karte und Gebiet

Gebrauchsgegenstände aus dem Eisenwarenhandel, Michelinlandkarten und Satellitenbilder, Menschen in einfachen Berufen ... Nichts geht über die Schönheit des Alltäglichen, findet Jed Martin, der Foto- und Malkünstler, und gibt das große Bild "Jeff Koons und Damien Hirst teilen den Kunstmarkt unter sich auf" schließlich auf. Jed ist ein Geschöpf des französischen Starautors Michel Houellebecq, der es an Exzentrizität und Provokation mit dem Paar Koons/Hirst durchaus aufnehmen kann. Louis Paillard hat Houellebecqs lässigen Roman "Karte und Gebiet", 2010, in eine zärtlich radikale Graphic Novel verwandelt, der Autor selbst hat den Text dafür bearbeitet. Ein paar schöne Stunden verbringt Jed in einem irischen Cottage mit Michel Houellebecq selber, der sich auf wahrhaft furchtlose Weise in sein eigenes Buch hineingeschrieben hat. Fritz Göttler

Michel Houellebecq (Text), Louis Paillard (Zeichnungen): Karte und Gebiet. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. Dumont, Köln 2023. 156 Seiten, 32 Euro. (Foto: Dumont)

Zerocalcare: No Sleep till Shingal

Wer je durch die arabische Welt gereist ist, weiß: Warten können ist eine Kernkompetenz, über die man dort verfügen sollte. Warten an Grenzen, an Checkpoints, auf Beamte, mit denen man dann auf deren Vorgesetzte wartet - auch der italienische Zeichner Zerocalcare kann davon berichten. Und tut es sehr amüsant: "No Sleep Till Shingal" heißt sein neues Buch, das zeigt: Warten und dennoch nicht schlafen, das schließt sich nicht aus. Nachdem Zerocalcare 2017 mit "Kobane Calling" den Überlebenskampf und die Abwehrschlacht der syrischen Kurden gegen den IS gezeichnet hatte, ist er nun wieder in die Region gereist. Diesmal zu den Jesiden ins Shingal-Gebirge, an denen die Gotteskrieger 2014 Völkermord verübten und die nun versuchen, eine Autonomie im Nordirak durchzusetzen. "No Sleep till Shingal" ist weniger actionreich als sein Vorgänger, aber Zerocalcare trifft den richtigen Ton, um das wenig beleuchtete Schicksal der Jesiden in einer Graphic Novel aufzugreifen. Und wenn sein anarchisch-lakonischer Humor auf die durchaus noch sehr autoritär daherkommenden Autoritäten der Region zielt, wird es besonders gut: Haben Sie etwa schon mal einen Erdoğan in Cosplay-Verkleidung für einen Comic-Event gesehen? Zerocalcare zumindest hat es sich vorgestellt - natürlich beim Warten. Moritz Baumstieger

Zerocalcare: No Sleep till Shengal. Aus dem Italienischen von Myriam Alfano. Avant Verlag, Berlin 2023. 200 Seiten, 28 Euro. (Foto: Zerocalcare / Avant)

Joann Sfar: Die Synagoge

Eine Jugend in Nizza, begleitet von einem schrecklich banalen, im doppelten Wortsinn gewöhnlichen Antisemitismus. Joann will gegen Skinheads und Neonazis, Attentäter und Schänder jüdischer Friedhöfe kämpfen - am liebsten mit Fäusten UND mit dem Gesetz, ganz wie sein Vater. Der ist als erfolgreicher Anwalt, der Neonazis in den Knast bringt, sich aber auch gern mal prügelt, sein großes Vorbild - ein Übervater. Aber ist diese Art zu kämpfen auch Joanns Weg? Frankreichs Starzeichner Joann Sfar ("Die Katze des Rabbiners") blickt in seiner sehr persönlichen Graphic Novel "Die Synagoge" auf schwierige Familienverhältnisse und sein kompliziertes Verhältnis zum jüdischen Glauben zurück. Und auf eine Jugend, die von dem Gefühl ständiger Bedrohung geprägt war, am Ende des Buchs listet Sfar eine "kleine Chronologie antisemitischer Vorfälle seit meiner Geburt" auf. Seine Erinnerungen hat er als produktives (oft auch komisches) Durcheinander aufgeschrieben, mit Zeit- und Gedankensprüngen, gezeichnet mit Sfars typisch kribbeligem Strich. Ein junger Mann sucht seinen Weg: Geradlinig war das in diesem Fall offensichtlich nicht. Martina Knoben

Joann Sfar (Text und Zeichnungen): Die Synagoge. Aus dem Französischen von Annika Wisniewski. Avant Verlag, Berlin 2023. 208 Seiten, 30 Euro. (Foto: Avant Verlag)
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