Architektur für Obdachlose:"Wenn man keine Adresse hat, ist man auch nicht Teil der Gesellschaft"

Lesezeit: 6 Min.

  • Laut Schätzungen sollen in Deutschland im Jahr 2018 etwa 678 000 Menschen keine eigenen vier Wände gehabt haben. Das sind 4,2 Prozent mehr als im Vorjahr.
  • Weltweit entstehen immer mehr Architekturprojekte, die Wohnungslosen Raum schaffen wollen.
  • In Wien etwa bietet das Projekt Vinzi-Dorf älteren Obdachlosen kleine Wohnungen an.

Von Laura Weißmüller

Das Küchenradio im Gemeinschaftshaus dudelt "Love Is in the Air". Die Wiener Sonne scheint warm auf 16 bunt gefleckte Reihenhäuschen, die eine Wiese säumen. Vögel zwitschern von alten Bäumen. Dann spricht Alexander Hagner von den Morddrohungen. Der 56-jährige Architekt hatte auf einer Bürgerversammlung gesprochen, wo er mit seiner Büropartnerin für sein Herzensprojekt warb, das heute so idyllische "Pensionistenheim" für ältere Obdachlose in Wien. Da lief ein Mann auf sie zu: "Wir erschlagen euch!", rief er. Hagner trägt Schwarz. Das entspricht seiner Zunft. Sein Lebensthema aber ist ungewöhnlich, denn es gibt nicht viel Architektur für Obdachlose. Häufiger finden sich Bauten gegen Obdachlose. Mit Abtrennungen auf Bänken. Steinpollern in windgeschützten Ecken oder scharfkantigen Gitter über Lüftungsschächten.

Die Zahl derer, die keine Wohnung haben, die darauf angewiesen sind, bei Freunden zu schlafen, einen Heimplatz zu ergattern - mit all den Auflagen, die das mit sich bringt -, oder die unter Brücken, in Parks und den sonstigen toten Winkeln einer Stadt kampieren müssen, wird unterdessen größer. Auch wegen der steigenden Mieten. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe schätzt, dass in Deutschland im Jahr 2018 etwa 678 000 Menschen keine eigenen vier Wände hatten. Das sind 4,2 Prozent mehr als im Vorjahr. Über 40 000 davon leben tatsächlich auf der Straße.

"Es gibt ein Menschenrecht auf Wohnen, es wird nur nicht exekutiert", sagt Hagner, der in Heilbronn aufgewachsen ist, aber schon so lange in Wien lebt, dass er zumindest für deutsche Ohren als Österreicher durchgeht. Ausgerechnet im prächtigen Wien wurde ihm als Architekturstudent erstmals die eigene Ohnmacht gegenüber dem Elend der Menschen auf der Straße richtig bewusst. Das Gefühl der Hilflosigkeit wuchs nur, als er den Menschen auf der Straße Geld gab. Seitdem versucht Hagner, sich mit den Fähigkeiten eines Architekten für diese Menschen einzusetzen. 2002 entstand die Idee eines Dorfes, als Hagner in der Zeitung von einem Dorf für ehemals Obdachlose in Graz las, initiiert von Pfarrer Wolfgang Pucher und der von ihm gegründeten Hilfsorganisation Vinzi-Werke, die sich für Obdachlose einsetzt.

Knapp 20 Jahre später sitzt der Architekt inmitten seiner Idee und erzählt, wie oft er und seine Mitstreiter scheiterten. Wie der Plan, auf einem Grundstück ein Zuhause für Obdachlose zu errichten, jedes Mal zunichte gemacht wurde, von wütenden Nachbarn, aber auch von Politikern. "Politiker werden von Menschen mit Wohnadresse gewählt", sagt Hagner. Beim ersten Grundstück in Aspern gab es innerhalb von zwei Wochen 1500 Unterschriften dagegen und über 1000 Kirchenaustrittsdrohungen. Das Projekt platzte, genauso wie vier weitere. Hetzendorf ist das sechste Grundstück, und auch hier formierte sich anfangs Widerstand. Not in my backyard, die Abwehrhaltung gegenüber Bauprojekten in der eigenen Nachbarschaft fällt noch heftiger aus, wenn es um die äußerste Randgruppe geht.

"Heute ist uns vieles klar, was wir falsch gemacht haben", sagt Hagner. Er will verstehen, wie man ein sozial schwieriges Projekt umsetzt. "Es geht um Kommunikation. Mit einem falschen Satz kannst du vier bis fünf Jahre verlieren." Eine Bürgerversammlung etwa sei "der schlechteste Ort, um so ein Projekt vorzustellen". Da schaukele sich nur die Stimmung auf, auch wenn es nicht immer Morddrohungen gibt. Genauso fatal sei es, wenig zu informieren, in der Hoffnung, die Anrainer würden die vollendeten Tatsachen schon akzeptieren. "Damit wird in ihren Köpfen nur das Schlimmste ermöglicht."

Wo geht es gut? Hagner: "Wo Geld zu Hause ist, sind die Menschen entspannter." Für die untere Mittelschicht hingegen verkörperten die Obdachlosen gerade heute die eigenen Abstiegsängste, vermutet er.

Das Schönste für einen ehemals Obdachlosen: den ganzen Tag drin zu bleiben

Um die Nachbarschaft auf seine Seite zu bringen, haben Hagner und seine Büropartnerin Ulrike Schartner von Gaupenraub dagegen Flohmärkte auf dem Areal veranstaltet. Nicht nur bei dem Dorf, dessen Bau schließlich 2017 beginnen konnte, sondern auch bei anderen Projekten in Wien: ein Wohnhaus für Obdachlose und Studenten mit einem Restaurant im Erdgeschoss. Eine WG für Geflüchtete oder die Notschlafstelle für 60 Menschen, für den Architekten sein "gravierendstes Erfolgserlebnis im Beruf": Bei keinem Projekt nehme er "die Wirksamkeit" so wahr. "Bei Obdachlosigkeit ist nicht der fehlende Schutz vor Regen und Sonne das Schlimmste, sondern dass die Menschen keinen Platz haben, wo sie sein dürfen. Jedes Tierchen kann sich sein Nest bauen", sagt der Architekt: "Obdachlosigkeit ist lebensbedrohlich." Statt sich mit dieser Kälte abzufinden, entwirft er lieber. In seinem Wiener Dorf messen die spartanischen Reihenhäuschen gerade mal 7,2 Quadratmeter. Außer Nasszelle und einem Zimmer mit Bett, Tisch, Schrank, zwei Stühlen und einem Nachtkästchen hat darin kaum etwas Platz. Ist das zumutbar? "Das Wichtigste für diese Menschen ist ihre Privatsphäre, dass sie endlich wieder 'Meins!' sagen können."

Hagners gesammeltes Forschungswissen steckt in den Häuschen und dem Umbau des angrenzenden Wirtschaftsgebäudes zum Gemeinschaftshaus mit Aufenthaltsraum, Kantine, Büros für die Mitarbeiter, Sanitäranlagen sowie weiteren Wohnungen für Obdachlose. Es ist eine Architektur, die ein Zusammenleben ermöglichen will, aber auch Konflikte entschärfen. Denn das Leben auf der Straße und der soziale Abstieg traumatisieren.

Deshalb gibt es Einzelzimmer. Deshalb sind die Türen der Reihenhäuser auf gegenüberliegenden Seiten angeordnet, sodass die Bewohner sich nicht treffen müssen, wenn sie es nicht wollen. Die Anlage bietet Gemeinschaft zwar an, aber erzwingt sie nicht. Es gibt das lichte Wohnzimmer für alle, den großen Garten, aber wer nicht will, der muss sein Häuschen auch nicht verlassen.

Beim Gang über das Areal trifft man einen der Bewohner, einen hageren Alten, der hingebungsvoll an den Grünpflanzen vor seiner Haustür zupft. Ob man ihm Fragen stellen dürfe? Er willigt ein, wenn auch etwas begeisterungslos, ein Eigenbrötler sei er, nennt nicht mal seinen Namen, und gerät doch ins Schwärmen: "Hier fühle ich mich seit Langem wieder wohl. Wenn ich will, kann ich den ganzen Tag drinbleiben!" In den Obdachlosenheimen musste er morgens um acht Uhr das Haus verlassen, auch bei Regen oder Schnee. 63 Jahre sei er alt, sieht aber älter aus. Früher, als Baggerfahrer, habe er nie gedacht, "dass es so schnell nach unten gehen kann". Immerhin, sein 19-jähriger Sohn halte zu ihm, "trotz allem". Er wendet sich ab, nicht ohne dem Architekten noch ein "Dankeschön!" zuzumurmeln.

Das Zelt eines Obdachlosen in Los Angeles. Viele Menschen, die hier auf der Straße leben, haben zwar Arbeit, können sich aber die Mieten nicht mehr leisten. (Foto: AP)

Nächstes Jahr sind Hochbeete geplant, für die bislang 22 Bewohner und die Nachbarschaft. "Wir möchten, dass Vinzi-Dorf ein Teil von Hetzendorf wird", so Hagner. Das ist auch der Grund, warum er seine Architektur möglichst ansprechend gestaltet - egal, wie knapp das Budget ist. Die meisten Baumaterialien sind Sachspenden, vieles entstand in Freiwilligenarbeit. Trotzdem erinnert nichts an die dürftige Optik mancher Hilfsprojekte. "Die Gestaltung ist entscheidend, sonst baut man die Stigmatisierung weiter."

Michael Maltzan sieht das ähnlich und entwirft doch anders. Der Architekt arbeitet in Los Angeles. Über 36 000 Menschen leben dort auf der Straße. "Obdachlosigkeit ist überall. Allein im vergangenen Jahr ist sie um 12 Prozent gestiegen", sagt Maltzan. "Architekten haben die Kraft zu zeigen, dass Obdachlosigkeit kein anonymes Problem ist." Er hat dem Wohnhaus daher nicht nur den glamourösen Namen Star Apartments gegeben - das Gebäude wirkt wie ein kraftstrotzender Bodybuilder von Venice Beach: Die Wohnungen wurden in die Höhe gewuchtet, damit im Erdgeschoss Platz für Gemeinschaftsräume, medizinische Versorgung und soziale Dienste entstand.

"Die beiden Architekten vertreten zwei unterschiedliche Positionen", sagt Giovanna Borasi am Telefon. Die Italienerin ist Chefkuratorin vom renommierten Centre Canadien d'Architecture (CCA) in Montreal, das sie ab 2020 leiten wird. Borasi hat den Film "What It Takes to Make a Home" gemacht, in dem sie die Arbeit von Maltzan und Hagner vergleicht und der nächstes Jahr auch in Europa zu sehen sein wird. "Michael Maltzan möchte eine Architektur machen, die das Thema möglichst sichtbar macht. Alex Hagner will kein besonderes Haus, sondern eines, dass sich in seine Umgebung einfügt." Auch damit den Nachbarn die Akzeptanz leichter fällt.

Borasi beschäftigt sich in ihrer Arbeit am CCA mit der Frage, was es braucht, um Teil der Gesellschaft zu sein. Das unterliege einem Wandel. Egal, ob es um Familie, Freunde oder Besitz gehe. Alles werde geteilt, nur: "Wenn man keine Adresse hat, ist man auch nicht Teil der Gesellschaft."

In Berlin schwärmen Tausende Menschen aus, um Obdachlose zu zählen und zu befragen

Das sieht Jutta Allmendinger ähnlich. Die deutsche Soziologin forscht seit zwei Jahren über Obdachlosigkeit - auch, weil sie "baff erstaunt über ihre eigene Stereotypisierung war". In Los Angeles begegneten ihr Obdachlose am Strand, die sich morgens vor ihrem Zelt schick machten. Auf Allmendingers Frage, warum, gaben sie an, dass sie gleich zur Arbeit gehen. Es waren Lehrer in den ersten Berufsjahren, die sich keine Wohnung leisten konnten.

"Auch in Deutschland nimmt die Obdachlosigkeit trotz Erwerbstätigkeit zu", so Allmendinger. Wie stark genau weiß keiner, genauso wie Informationen zu den Gründen für die Obdachlosigkeit fehlen. "Wir können überhaupt keinen Bezug der Obdachlosigkeit zur allgemeinen Armutsforschung machen", sagt Allmendinger. Weil konkrete Zahlen, aber auch das Interesse fehlen. Dabei brauche es dringend eine empirische Grundlage, um herauszufinden, warum jemand obdachlos wird, wie er wieder herauskommt und gegebenenfalls wieder zurückfällt. "Dabei werden wir auf Facetten stoßen, die vielfältiger sind, als wir heute noch vermuten." Ende Januar werden zumindest in Berlin 3700 Menschen ausschwärmen, um die Obdachlosen der Hauptstadt zu zählen und zu befragen. "Die Zahlen werden uns auf Seiten der Wissenschaft stärker argumentieren lassen", sagt Allmendinger. "Je genauer wir sind, desto zielorientierter können Politiken sein." Eine Maßnahme allein werde das Problem nicht lösen.

Allmendinger arbeitet an einem Buch, das die soziale Ungleichheit mit der Obdachlosigkeit verbindet und im Herbst erscheinen soll. Vor 20 Jahren hat sie mit ihrem Begriff der Bildungsarmut deutlich gemacht, dass es jenseits der finanziellen Armut "zu einer maximalen Exklusion der gesellschaftlichen Teilhabe kommt". Jetzt will sie mit dem Begriff "Wohnungsarmut" daran anknüpfen.

Das entspricht Alexander Hagners Erfahrung. Für ihn bedeutet Obdachlosigkeit "soziale Verarmung". Die Hoffnung, dass dieses Problem jemals gelöst wird, hat er nicht. "Aber ist das ein Grund, jemand vollkommen aus der Gesellschaft auszuschließen?"

© SZ vom 21.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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