Architektur für Obdachlose:"Wenn man keine Adresse hat, ist man auch nicht Teil der Gesellschaft"

What It Takes to Make a Home; 2019 | 28 min
Canada
Digital film
First film of a three-part documentary series

Conceived by Giovanna Borasi
Directed by Daniel Schwartz

Unübersehbar: Michael Maltzans ausdrucksstarke Star Apartments in Los Angeles.

(Foto: CCA)
  • Laut Schätzungen sollen in Deutschland im Jahr 2018 etwa 678 000 Menschen keine eigenen vier Wände gehabt haben. Das sind 4,2 Prozent mehr als im Vorjahr.
  • Weltweit entstehen immer mehr Architekturprojekte, die Wohnungslosen Raum schaffen wollen.
  • In Wien etwa bietet das Projekt Vinzi-Dorf älteren Obdachlosen kleine Wohnungen an.

Von Laura Weißmüller

Das Küchenradio im Gemeinschaftshaus dudelt "Love Is in the Air". Die Wiener Sonne scheint warm auf 16 bunt gefleckte Reihenhäuschen, die eine Wiese säumen. Vögel zwitschern von alten Bäumen. Dann spricht Alexander Hagner von den Morddrohungen. Der 56-jährige Architekt hatte auf einer Bürgerversammlung gesprochen, wo er mit seiner Büropartnerin für sein Herzensprojekt warb, das heute so idyllische "Pensionistenheim" für ältere Obdachlose in Wien. Da lief ein Mann auf sie zu: "Wir erschlagen euch!", rief er. Hagner trägt Schwarz. Das entspricht seiner Zunft. Sein Lebensthema aber ist ungewöhnlich, denn es gibt nicht viel Architektur für Obdachlose. Häufiger finden sich Bauten gegen Obdachlose. Mit Abtrennungen auf Bänken. Steinpollern in windgeschützten Ecken oder scharfkantigen Gitter über Lüftungsschächten.

Die Zahl derer, die keine Wohnung haben, die darauf angewiesen sind, bei Freunden zu schlafen, einen Heimplatz zu ergattern - mit all den Auflagen, die das mit sich bringt -, oder die unter Brücken, in Parks und den sonstigen toten Winkeln einer Stadt kampieren müssen, wird unterdessen größer. Auch wegen der steigenden Mieten. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe schätzt, dass in Deutschland im Jahr 2018 etwa 678 000 Menschen keine eigenen vier Wände hatten. Das sind 4,2 Prozent mehr als im Vorjahr. Über 40 000 davon leben tatsächlich auf der Straße.

"Es gibt ein Menschenrecht auf Wohnen, es wird nur nicht exekutiert", sagt Hagner, der in Heilbronn aufgewachsen ist, aber schon so lange in Wien lebt, dass er zumindest für deutsche Ohren als Österreicher durchgeht. Ausgerechnet im prächtigen Wien wurde ihm als Architekturstudent erstmals die eigene Ohnmacht gegenüber dem Elend der Menschen auf der Straße richtig bewusst. Das Gefühl der Hilflosigkeit wuchs nur, als er den Menschen auf der Straße Geld gab. Seitdem versucht Hagner, sich mit den Fähigkeiten eines Architekten für diese Menschen einzusetzen. 2002 entstand die Idee eines Dorfes, als Hagner in der Zeitung von einem Dorf für ehemals Obdachlose in Graz las, initiiert von Pfarrer Wolfgang Pucher und der von ihm gegründeten Hilfsorganisation Vinzi-Werke, die sich für Obdachlose einsetzt.

Architektur für Obdachlose: Das Vinzi-Dorf in Wien ist ein "Pensionistenheim" für ältere Obdachlose. Entworfen haben es Alexander Hagner und seine Büropartnerin Ulrike Schartner von dem Büro gaupenraub.

Das Vinzi-Dorf in Wien ist ein "Pensionistenheim" für ältere Obdachlose. Entworfen haben es Alexander Hagner und seine Büropartnerin Ulrike Schartner von dem Büro gaupenraub.

(Foto: Kurt Kuball)

Knapp 20 Jahre später sitzt der Architekt inmitten seiner Idee und erzählt, wie oft er und seine Mitstreiter scheiterten. Wie der Plan, auf einem Grundstück ein Zuhause für Obdachlose zu errichten, jedes Mal zunichte gemacht wurde, von wütenden Nachbarn, aber auch von Politikern. "Politiker werden von Menschen mit Wohnadresse gewählt", sagt Hagner. Beim ersten Grundstück in Aspern gab es innerhalb von zwei Wochen 1500 Unterschriften dagegen und über 1000 Kirchenaustrittsdrohungen. Das Projekt platzte, genauso wie vier weitere. Hetzendorf ist das sechste Grundstück, und auch hier formierte sich anfangs Widerstand. Not in my backyard, die Abwehrhaltung gegenüber Bauprojekten in der eigenen Nachbarschaft fällt noch heftiger aus, wenn es um die äußerste Randgruppe geht.

"Heute ist uns vieles klar, was wir falsch gemacht haben", sagt Hagner. Er will verstehen, wie man ein sozial schwieriges Projekt umsetzt. "Es geht um Kommunikation. Mit einem falschen Satz kannst du vier bis fünf Jahre verlieren." Eine Bürgerversammlung etwa sei "der schlechteste Ort, um so ein Projekt vorzustellen". Da schaukele sich nur die Stimmung auf, auch wenn es nicht immer Morddrohungen gibt. Genauso fatal sei es, wenig zu informieren, in der Hoffnung, die Anrainer würden die vollendeten Tatsachen schon akzeptieren. "Damit wird in ihren Köpfen nur das Schlimmste ermöglicht."

Wo geht es gut? Hagner: "Wo Geld zu Hause ist, sind die Menschen entspannter." Für die untere Mittelschicht hingegen verkörperten die Obdachlosen gerade heute die eigenen Abstiegsängste, vermutet er.

Das Schönste für einen ehemals Obdachlosen: den ganzen Tag drin zu bleiben

Um die Nachbarschaft auf seine Seite zu bringen, haben Hagner und seine Büropartnerin Ulrike Schartner von Gaupenraub dagegen Flohmärkte auf dem Areal veranstaltet. Nicht nur bei dem Dorf, dessen Bau schließlich 2017 beginnen konnte, sondern auch bei anderen Projekten in Wien: ein Wohnhaus für Obdachlose und Studenten mit einem Restaurant im Erdgeschoss. Eine WG für Geflüchtete oder die Notschlafstelle für 60 Menschen, für den Architekten sein "gravierendstes Erfolgserlebnis im Beruf": Bei keinem Projekt nehme er "die Wirksamkeit" so wahr. "Bei Obdachlosigkeit ist nicht der fehlende Schutz vor Regen und Sonne das Schlimmste, sondern dass die Menschen keinen Platz haben, wo sie sein dürfen. Jedes Tierchen kann sich sein Nest bauen", sagt der Architekt: "Obdachlosigkeit ist lebensbedrohlich." Statt sich mit dieser Kälte abzufinden, entwirft er lieber. In seinem Wiener Dorf messen die spartanischen Reihenhäuschen gerade mal 7,2 Quadratmeter. Außer Nasszelle und einem Zimmer mit Bett, Tisch, Schrank, zwei Stühlen und einem Nachtkästchen hat darin kaum etwas Platz. Ist das zumutbar? "Das Wichtigste für diese Menschen ist ihre Privatsphäre, dass sie endlich wieder 'Meins!' sagen können."

Hagners gesammeltes Forschungswissen steckt in den Häuschen und dem Umbau des angrenzenden Wirtschaftsgebäudes zum Gemeinschaftshaus mit Aufenthaltsraum, Kantine, Büros für die Mitarbeiter, Sanitäranlagen sowie weiteren Wohnungen für Obdachlose. Es ist eine Architektur, die ein Zusammenleben ermöglichen will, aber auch Konflikte entschärfen. Denn das Leben auf der Straße und der soziale Abstieg traumatisieren.

Deshalb gibt es Einzelzimmer. Deshalb sind die Türen der Reihenhäuser auf gegenüberliegenden Seiten angeordnet, sodass die Bewohner sich nicht treffen müssen, wenn sie es nicht wollen. Die Anlage bietet Gemeinschaft zwar an, aber erzwingt sie nicht. Es gibt das lichte Wohnzimmer für alle, den großen Garten, aber wer nicht will, der muss sein Häuschen auch nicht verlassen.

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