Álvaro Enrigue: "Jetzt ergebe ich mich, und das ist alles":Die Erde gehörte ihnen

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In der Landschaft, die einmal den Ureinwohnern gehörte, treffen sich heute Waffennarren zum Schießen: in der Sonora-Wüste in Arizona beim Big Sandy Machine Gun Shoot. (Foto: Jim Lo Scalzo/dpa)

Einer der berühmtesten Ureinwohner, und doch ein wenig aufgearbeitetes Kapitel der Geschichte der USA: Álvaro Enrigue erzählt vom Krieger Gerónimo und seiner Wirkung bis heute.

Von Moritz Baumstieger

Wie sie kamen, um ihn anzustarren. Der Feind, das Phänomen, der Teufel: Nach langer Jagd ist er nun gefangen und eingesperrt. Wie ein wildes Tier, das man begaffen kann, neugierig, aber eben auch leicht schaudernd. Die besseren Leute von San Antonio, Texas, legen das feine Sonntagskleid an, wenn sie am Wochenende hinausfahren zum Fort "Sam Houston". Das gemeine Volk drängt sich einfach so vor den Gittern, wenn "turnusmäßige Zurschaustellung" ist. Und von all dem scheinbar ungerührt steht Gerónimo. Der Medizinmann, Berater der Häuptlinge, Stratege. Und mit ihm einige der 36 Mann, die sich im 19. Jahrhundert jahrzehntelang einen Abnutzungskrieg mit den Armeen Mexikos und der Vereinigten Staaten geliefert hatten. 36 von einst 500, mehr waren nicht übrig.

Doch wie so oft klaffen Vorstellungen und Wirklichkeit ein wenig auseinander: "Die Indianer waren nicht das, womit Ellie gerechnet hatte. Sie trugen keine Federn, wirkten weder wie Wilde noch Verrückte, noch Mörder. Sie waren nur ein paar Männer, die sich auf der Erde bewegten, als gehörte sie ihnen." Ellie, die Frau eines jungen Anwalts, erschaudert, als sie bemerkt, dass Gerónimo seinen Blick auf ihre Brüste gerichtet hat, die "unter zahlreichen Schichten aus Baumwolle, Krinoline und Seide nur zu erahnen waren".

Die Kinder sind fasziniert. Und der Vater, der Schriftsteller, wohl noch mehr

Ihr Mann, dank dessen Beziehungen das Paar Gerónimo abseits des normalen Besuchertrubels aus der Nähe betrachten kann, erschaudert ebenfalls. Gerónimo spricht zu ihnen, sagt, Ellie erinnere ihn an Camila, eine Mexikanerin, die einst bei den Apachen lebte und bei ihnen starb. "Sie ist eine echte Frau." Nach dem seltsamen Zusammentreffen zwischen seiner Ehefrau und Gerónimo fragt sich der Anwalt "oft, ob Ellie die Frau war, die er geheiratet zu haben glaubte. (...) Er begriff nicht, dass es nicht Gerónimos Körper, sondern die Nähe zum Ruhm war, die Ellies Herz höher schlagen ließ. Nichts ist so erregend wie der Träger eines Namens, der die Zeit überdauert."

Wie stark der Name des wohl bekanntesten Apachen auch heute noch aufgeladen ist, das belegt ein weiterer Erzählstrang in Álvaro Enrigues Roman "Jetzt ergebe ich mich, und das ist alles": Ein Ich-Erzähler, wohl Enrigue selbst, begibt sich mit seiner Patchwork-Familie auf einen Roadtrip an die Orte, die von Gerónimos Leben und dem Überlebenskampf seines Volkes zeugen. Das Grab in einem entlegenen, aber für Touristen begehbaren Teil eines Militärforts. Ein Ferienhaus weit draußen in der Halbwüste. Ein Restaurant irgendwo in einem kleinen Kaff, in dem ein Nachfahre eines bekannten Häuptlings bedient. Die Kinder sind fasziniert. Und der Vater, der Schriftsteller, wohl noch mehr.

Álvaro Enrigue: Jetzt ergebe ich mich, und das ist alles. Aus dem Spanischen von Carsten Regling. Blessing, München 2021. 560 Seiten, 24 Euro. (Foto: N/A)

Die Landschaft, durch die die Familie fährt, ist noch weitgehend dieselbe, durch die schon Gerónimos Vorfahren ritten: Hochebenen und Canyons, viel Stein und wenig Wasser. Die politische Topografie hingegen hat sich stark verändert: Da wo einfach Land war, das man der Einfachheit halber Apacheria nannte, das Land der Apachen, sind nun Staaten und Grenzen. Mexiko hier. Die Vereinigten Staaten dort. Und Reservate.

Álvaro Enrigue selbst hat diese Grenzen überschritten, er ist in Guadalajara, Mexiko, geboren und lebt nun in New York, USA. Den Vernichtungskrieg gegen die Ureinwohner, den beide Länder betrieben, hat der 54-Jährige in seinem sechsten Roman zum Thema gemacht, der im Jahr 1836 beginnt, als die von Gerónimo in seinem Gespräch mit dem Anwaltspaar erwähnte Camila bei einem Überfall auf eine Ranch in Mexiko von Apachen gefangen genommen und von ihren Entführern auf grausame Art zu einer der ihren gemacht wird. Er kreist um das Jahr 1886, in dem Gerónimo den titelgebenden Satz "Jetzt ergebe ich mich, und das ist alles" spricht und sich in Gefangenschaft begibt - und es sollte tatsächlich alles gewesen sein, denn die Geschichte seines Stammes ist daraufhin bald zu Ende. Und er spielt in der Jetzt-Zeit, aus der Álvaro Enrigue auf unterschiedlichste Art zurückblickt.

Für Winnetou-Romantik ist hier kein Platz, über die Apacheria pfeift das Lied vom Tod

Wenn er den mexikanischen Oberleutnant Zuloaga die Entführer von Camila jagen lässt, ist das etwa purer Western. Zuloagas aus Zwangsrekrutierten und Desperados zusammengewürfelte Truppe - eine schießende Nonne, die gar keine Nonne ist, ein ehemaliger Tangolehrer, zwei Ureinwohner vom Stamm der Yaqi, die so lange im Gefängnis saßen, dass keiner mehr weiß, warum - lässt an das Tableau eines Films von Quentin Tarantino denken, die Brutalität, mit der beide Seiten kämpfen, ebenfalls. Für Winnetou-Romantik ist hier kein Platz, über die Apacheria pfeift das Lied vom Tod. Wenn dann fünfzig Jahre später, im Jahr 1886, der planlose Präsident Grover Cleveland in Washington und General Miles in Arizona per Telegramm korrespondieren, erinnert das an Behörden-Slapstick, der heute so ähnlich per E-Mail oder Messenger aufgeführt werden könnte. Und wenn der Ich-erzählende Autor aus Mexiko die heutige Erinnerungskultur in den USA beschreibt - "die einzigen Orte, wo es nur Weiße gibt, sind die Kulissen und falschen historischen Stätten" - dann ist das ebenfalls so brutal wie komisch.

Seinen Roman ordnet Enrigue dabei so an, wie einst die Apacheria war, bevor die Kolonisatoren aus Europa kamen: Weitgehend ohne Einhegung, ohne Grenzen, als weite Fläche, in der für alles Platz ist, alles ineinanderfließt. Anfangs stehen Leser da vielleicht so ratlos zwischen den Handlungssträngen wie Oberstleutnant Zuloaga in der pfadlosen Steinwüste. Doch wie der mexikanische Kommandant von seinen Fährtenlesern Spurensuchen lernt, lernen auch Leser die Orientierung im freien Textgelände.

Zu den letzten gefürchteten Häuptlingen gehörte der Apache Gerónimo, der 30 Jahre lang, bis ins hohe Alter, gegen die Weißen kämpfte. (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Trotzdem liest sich die Geschichte rasant. Für Enrigues Buch spricht außerdem, dass die Zeit der sogenannten "Indianerkriege" bis heute nicht wirklich aufgearbeitet ist. Dass die USA in ihrer Wahrnehmung von Gerónimo und seinem Volk nicht viel weiter gekommen sind, als es die von einer Mischung aus Grusel und Faszination geleitete Anwaltsgattin Ellie und ihr eifersüchtiger Ehemann waren, zeigte sich etwa in den frühen Morgenstunden des 2. Mai 2011 in Pakistan. Zwei Militärhubschrauber landeten in einem Hof, 38 Minuten später rief ein Elitesoldat das Codewort für eine erfolgreiche Operation ins Mikrofon: "Gerónimo, Gerónimo, Gerónimo". Der Feind, das Phänomen, der Teufel - nach jahrelanger Jagd war er nun gestellt. Für eine "turnusmäßige Zurschaustellung" eingesperrt werden sollte er aber nicht: Die via Livestream mitfiebernden Barack Obama und Hillary Clinton sahen zu, wie Osama bin Laden einfach erschossen wurde.

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