Ein Soundverstärker als Betonskulptur oder eine Bank wie eine Vogelschwinge: Das 3-D-Druckverfahren "selektive Zementaktivierung" ermöglicht Designern, Architekten und Ingenieuren eine Formfreiheit in Beton, die es bisher so noch nicht gab - ganz ohne den Einsatz von Werkzeug oder Schalung. Damit können nun maßgeschneiderte Einzelanfertigungen gedruckt werden, bei denen das Herstellen einer Gussform für den Beton zu aufwendig und teuer oder gar nicht realisierbar gewesen wäre. Doch auch die Fertigteil-Industrie könnte die neue Technik revolutionieren. Gewendelte Treppenelemente, Waschbecken oder organisch geformte Betonmöbel könnten künftig einfach gedruckt werden, denn das Südtiroler Unternehmen Progress Group hat nun einen der weltweit größten 3-D-Drucker in den Vertrieb gebracht.
Acht Meter mal vier Meter mal fünf Meter sind die Maße des massiven Druckers, in dessen Bauraum Betonfertigteile bis zu einer Länge von vier Metern, einer Breite von 2,5 Metern und einer Höhe von einem Meter im 3-D-Druckverfahren der selektiven Zementaktivierung gefertigt werden können.
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Die gedruckten Objekte verfügen über dieselbe Optik und Haptik wie Beton
Dabei wird auf einer Plattform ein Zement-Sand-Pulver in einer nur wenige Millimeter dicken Schicht aufgeschüttet und mit einer Walze geglättet. Auf die Stellen, an denen eine feste Struktur entstehen soll, träufelt der Druckkopf Wasser, das in das Material eindringt und den Aushärtungsprozess auslöst. Ist eine Schicht fertig, wird die Plattform so weit abgesenkt, dass die nächste Lage aufgetragen werden kann. Auf diese Weise entsteht Schicht für Schicht der zuvor am Computer modellierte dreidimensionale Festkörper. Das lose Restpulver wird nach dem Druckvorgang aufgesaugt und wiederverwendet. Verbraucht wird so nur das Material, das für das gewünschte Endprodukt nötig ist.
Bei Progress Group kommt ein Spezialzement und als Zuschlagstoff Sand oder recyceltes Altglas in Form von Glasschaumgranulat zum Einsatz. Die gedruckten Objekte verfügen über dieselbe Optik und Haptik wie Beton, jene mit Glasschaumgranulat als Zugschlagstoff haben darüber hinaus den Vorteil, dass sie etwas leichter sind.
Entwickelt wurde der 3-D-Drucker in der Forschungsabteilung der Progress Group, deren Hauptgeschäftsfeld der Maschinenanlagenbau für Betonfertigteile ist. Das Unternehmen hat die Technik als neues Geschäftsfeld erkannt. "Wir sehen das 3-D-Druckverfahren der selektiven Zementaktivierung im Bauwesen als zusätzliches Werkzeug für die Fertigteilindustrie", sagt Andreas Gallmetzer, Abteilungsleiter der Progress Group 3D Innovation. "Daher ist der Drucker auch nicht für den Einsatz auf der Baustelle konzipiert."
"Individualisierung wird auch in der Fertigteilindustrie immer wichtiger."
Der Prototyp steht am Hauptsitz des Unternehmens im Industriegebiet von Brixen. Dort wurden bis jetzt hauptsächlich Möbel und diverse Statuen produziert. Auch das "Sousa-Phone", mit dem Designer Martin Oberhauser den German Design Award Special 2021 gewonnen hat, ist hier gedruckt worden. Das Objekt ist der erste Smartphone-Verstärker aus Beton und funktioniert ganz ohne Strom und Elektronik.
Gallmetzer sieht die Stärken der neuen Drucktechnik in komplexen Formen, kleinen Mengen und schneller Bearbeitung. "Die Nachfrage nach kleinen Stückzahlen wird in Zukunft steigen", prognostiziert er, "Individualisierung wird auch in der Fertigteilindustrie immer wichtiger." Und dem Drucker sei es zudem egal, ob er eine einfache Platte druckt oder eine in sich verdrehte, verschlungene oder verwobene Struktur. Es ist ihm auch egal, ob er ein Einzelstück oder hundert Teile gleichzeitig druckt, solange sie in seinen Bauraum passen. Ein Druckvorgang mit dem Prototyp in Brixen dauert dabei immer etwa sechs Stunden.
Ungefähr dreieinhalb Jahre haben die Ingenieure der Progress Group an der Hardware und Steuerung des 3-D-Druckers getüftelt, unter anderem in engem Austausch mit dem Institut für Baustoffe, Massivbau und Brandschutz der TU Braunschweig.
Dort beschäftigt sich im Fachgebiet Baustoffe ein Team von Wissenschaftlern rund um Inka Mai mit den materiellen Hürden des innovativen Druckverfahrens: der unkontrollierten Ausbreitung der Flüssigkeit im Partikelbett und einem unzureichenden vertikalen Durchsickern. Das eine ergibt unförmige Bauteile, das andere einen ungenügenden Schichtverbund und damit einhergehend eine geringe Festigkeit. "Inzwischen lassen sich die Material- und Prozessparameter gezielt steuern, sodass sie optimal zusammenspielen", sagt Mai und bezieht sich damit auf die Packungsdichte des Partikelbetts, die Zusammensetzung des Pulvers, Additive im Wasser oder im Pulver sowie auf die Fahrgeschwindigkeit des Druckkopfes und die Durchflussrate.
Derzeit findet die selektive Zementaktivierung noch hauptsächlich im Interior Design Anwendung. In Zukunft sollen aber auch konstruktiv relevante Bauteile hergestellt werden wie Fassadenelemente, Decken, Treppen oder Stützen. "Da sind wir auf einem guten Weg", sagt Mai, "momentan bewegen wir uns im Bereich von 30 Megapascal, was der Druckfestigkeit von Normalbeton entspricht." Aktuell beschäftigt sich das Team zudem mit der Integration von Bewehrung, also der Verstärkung von Betonbauteilen, in den Druckprozess. Wenn dies gelingt, könnten in Zukunft mit dem 3-D-Druckverfahren der selektiven Zementaktivierung auch stärker auf Biegung beanspruchte Bauteile hergestellt werden. Der Vorteil: Das Anwendungsspektrum von Bauteilen mit hoher Tragfähigkeit wäre größer.