Karriere in der Wissenschaft:Mit Anfang 40 werden viele Forscher nicht mehr gebraucht

Frist ist Frust âÄ" Entfristungspakt 2019, Protestaktion vor dem Berliner Dienstsitz des Bundesministeriums für Bildung und Forschung am Freitag, 5. April 2019

Frist ist Frust" - unter diesem Slogan protestieren Hochschulmitarbeiter vor dem Bundesministerium für Bildung und Forschung.

(Foto: Kay Herschelmann)

Nirgends sind befristete Jobs so verbreitet wie an Hochschulen. Sie stellen viele Nachwuchsforscher ein, brauchen aber nur wenige Professoren. Über eine berufliche Perspektive von Projekt zu Projekt.

Von Nicole Grün

Roberta Marchionni nennt es "eine Reihe betrüblicher Ereignisse" - nach dem Titel der Fernsehserie, die ihre Kinder so gerne ansehen. Ihr Mann machte sich gerade als Journalist selbständig, sie selbst hatte mit 43 Jahren eben das zweite Kind geboren. Da bekam die promovierte Latinistin eine Mail von ihrem Chef an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. "Wenn ich bereit wäre, Vollzeit zu arbeiten, würde ich einen unbefristeten Vertrag bekommen, hieß es darin", erzählt Marchionni.

Glücklich sagte die Wissenschaftlerin zu. Doch als sie an die Akademie zurückkehrte, bekam sie statt der versprochenen Entfristung einen Dreimonatsvertrag präsentiert. "Ich dachte mir, wenn es so weitergeht, brauche ich einen guten Therapeuten", sagt Marchionni. Heute lacht sie darüber, doch damals war es ein Schock. "Ich weiß nicht, wie wir das nervlich durchgehalten haben."

Zukunfts- und Existenzängste sind nichts Ungewöhnliches unter deutschen Wissenschaftlern, die in Forschungsinstituten arbeiten oder dem akademischen Mittelbau angehören. Darunter fallen alle wissenschaftlichen und künstlerischen Mitarbeiter an Hochschulen, die keinen Lehrstuhl innehaben. Neun von zehn ihrer Arbeitsverträge sind nach Angaben der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) befristet, mehr als die Hälfte davon haben eine Laufzeit von weniger als einem Jahr. An außeruniversitären Forschungseinrichtungen liegt die Befristungsquote nur einige Prozentpunkte niedriger.

"Das sind miserabelste Zustände, die von der Bildungspolitik sehenden Auges hingenommen werden", sagt der Soziologe und Kulturwissenschaftler Peter Ullrich von der Technischen Universität Berlin. Das Argument, durch die Befristungen bleibe das System dynamisch und kreativ, hält er für nicht stichhaltig. Vielmehr führe es zu angepasstem Verhalten, weil sich niemand forscherisches Wagnis leisten könne. "Man macht lieber Projekte, die en vogue sind, mit denen man gut weiterkommt."

"Ich bin so lange beschäftigt, wie ich Drittmittel für mich einwerbe"

Ullrich ist einer der Gründer des Netzwerks für Gute Arbeit in der Wissenschaft, das zusammen mit GEW und Verdi die Kampagne "Frist ist Frust" ins Leben gerufen hat. Zusammen fordern sie, dass die Mittel aus dem nächsten Hochschulpakt, die zur Finanzierung zusätzlicher Studienplätze an die Hochschulen fließen, zu 100 Prozent für die Schaffung unbefristeter Stellen eingesetzt werden sollen.

"Bund und Länder schieben sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu, deshalb hat sich jahrelang nichts geändert. Nun hat der Bund konkrete Einflussmöglichkeiten, weil er den Ländern in Zukunft regelmäßig Geld gibt. Das bietet die Möglichkeit einer Trendwende", erklärt Ullrich. Er selbst hatte in den letzten zehn Jahren 15 Verträge. "Ich bin so lange beschäftigt, wie ich Drittmittel für mich einwerbe", sagt er.

Möglich gemacht werden Situationen wie diese durch das Wissenschaftszeitarbeitsgesetz, das eine zwölf Jahre andauernde Befristung erlaubt, sechs Jahre vor und sechs Jahre nach der Promotion. Pro Kind verlängert sich die Zeitspanne um zwei Jahre. Wird die Stelle jedoch überwiegend aus Drittmitteln finanziert, also aus Mitteln, die nicht aus dem Budget der Hochschule stammen, sondern etwa von der EU oder Stiftungen kommen, sind beliebig viele Befristungen über die Zwölfjahresregel hinaus zulässig.

"Ich weiß nicht, was die Leute gedacht haben, als sie dieses Gesetz gemacht haben", sagt Roberta Marchionni. Nachdem ihr Vertrag an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften nach zehn Jahren endgültig nicht mehr verlängert wurde, klagte sie gegen ihren Arbeitgeber und das Wissenschaftszeitvertragsgesetz. Sie bekam zwar nicht recht, schaffte es aber immerhin bis zum Bundesarbeitsgericht.

Selbständigkeit als zweites Standbein

Seit sechs Jahren hat Marchionni nun eine volle, wenn auch befristete Stelle an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und pendelt zwischen München und Berlin: "Natürlich könnte mein Mann auch in München arbeiten, aber was machen wir, wenn ich nicht verlängert werde? Dann leben wir in der teuersten Stadt Deutschlands, und das mit zwei Kindern."

Auch Tanja Kohwagner-Nikolai, 44, hat zwei Kinder. Wäre sie vor zwanzig Jahren nicht ungeplant schwanger geworden, wäre sie wohl kinderlos geblieben - so wie 49 Prozent der im Mittelbau beschäftigten Frauen und 42 Prozent der Männer. Bei altersgleichen Hochschulabsolventen bleiben nur 25 Prozent kinderlos. Das geht aus dem aktuellen Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs hervor.

Kohwagner-Nikolai erlebt immer wieder, dass sich Kolleginnen schlichtweg nicht trauen, ein Kind zu bekommen. "Es braucht tatsächlich ein Netz mit doppeltem Boden, damit es funktioniert", sagt sie. Als sie schwanger war, tauschte ihr Mann seine wissenschaftliche Karriere gegen eine feste Stelle in der Wirtschaft ein, die Großeltern halfen später bei der Kinderbetreuung. Nur, weil sie drei Standbeine habe, könne sie immer noch in der Wissenschaft tätig sein, sagt Kohwagner-Nikolai: Sie ist promovierte Kunsthistorikerin, Historikerin und Museumspädagogin. Aktuell hat sie befristete Verträge an einer Universität und einer externen Forschungseinrichtung.

"Ich hangele mich von Projekt zu Projekt und darf nebenbei meine selbständige Tätigkeit nicht einschlafen lassen, auch wenn das bedeutet, oft zusätzlich am Wochenende zu arbeiten." All das tue sie sich an, weil sie für ihren Beruf brenne: "Ich weiß, dass es sinnvoll ist, was ich mache, es ist etwas, was der Gesellschaft nutzt, auch für die Gegenwart."

Brennen für ihre Arbeit, das tun fast alle Wissenschaftler - auch wenn die Gefahr des Ausbrennens sehr hoch ist. "Durch die Sondergesetzgebung im Wissenschaftsbereich wird künstlich eine Extremkonkurrenz geschaffen, die für diejenigen, die sich in diesem Wettbewerb zu behaupten versuchen, mit hohen Kosten verbunden ist", sagt Peter Ullrich. Studien belegen, dass Wissenschaftler pro Woche im Durchschnitt zwölf Überstunden leisten, häufig arbeiten sie an ihren wissenschaftlichen Projekten weiter, während sie eigentlich arbeitslos sind, oder nehmen unbezahlte Lehraufträge an.

41,3 Jahre

alt sind Wissenschaftler in Deutschland im Schnitt, wenn sie habilitiert werden. Annähernd die Hälfte der Habilitationen entfiel 2017 auf die Humanmedizin (779). An zweiter Stelle folgten die Fächergruppe Mathematik und Naturwissenschaften (239), an dritter Stelle die Geisteswissenschaften (201).

Auch Tanja Kohwagner-Nikolai hat bereits ehrenamtlich Lehrveranstaltungen gehalten, manchmal wurde sie aber auch dafür bezahlt: 700 Euro pro Semester für 28 Stunden Unterricht, an dessen Ende sie 25 Hausarbeiten zu korrigieren hatte. "Da kann man sich ausrechnen, dass jede Putzfrau mehr bekommt. Mein Mann sagt immer, er hält sich eine promovierte Haushaltshilfe", sagt sie.

"Das ist ein menschenverachtendes System"

Wenn sie von ihren Arbeitsbedingungen erzählen, wird Wissenschaftlern oft vorgehalten, sie hätten sich auch etwas anderes suchen können. Aber das sei irreführend, sagt Peter Ullrich, denn am Anfang seien die Stellen ja da. "Das System saugt früh viele rein, doch dann kommt der Flaschenhals." So sei das Mittelbau-Personal zwischen 2003 und 2013 um mehr als 50 000 Personen angewachsen, die Zahl der Professuren jedoch nur um etwa 1000.

"Viele stellen dann mit Anfang vierzig fest, dass sie nicht mehr gebraucht werden, weil das Wissenschaftszeitvertragsgesetz ihnen reguläre Beschäftigung an Lehrstühlen verbietet, wenn sie keine Professur bekommen, und die Konkurrenz um Drittmittel immer größer wird", sagt er. "Das ist ein menschenverachtendes System." Bei aller Freude, die ihm die wissenschaftliche Arbeit bringt: Ullrich, Anfang vierzig, zwei Doktortitel, keine Familie, bereut mittlerweile den hohen Preis, den er für seine wissenschaftliche Laufbahn bezahlt. "Aber jetzt ist es eigentlich zu spät, sich umzuorientieren."

So geht es vielen Wissenschaftlern. Der Leidensdruck ist hoch, sie versuchen weiterzumachen, von einem Projekt zum nächsten, von einer Hoffnung zur nächsten. Aber nicht um jeden Preis, wie Kohwagner-Nikolai beschlossen hat: "Schließlich wird auf unserem Grabstein nicht stehen, was für geniale Wissenschaftler wir waren."

Zur SZ-Startseite
Universität Bamberg

Lehren und Forschen
:Gute Noten machen noch keinen Professor

Von der Handbibliothek nach Harvard: Eine Anleitung für die Karriere in der Wissenschaft.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: