Wenn sich Samuel Decker heute an den Moment erinnert, in dem ihm zum ersten Mal Zweifel kamen, denkt er an die zehn Gebote. Kapitel eins, Seite 3, Lehrbuch Mankiw und Taylor. Es war die erste Vorlesung der Einführung in die Volkswirtschaftslehre, im Winter 2012. Der Professor warf nach und nach die zehn Prinzipien der Ökonomie an die Wand, die von nun an gelten sollten. "Das hatte was von den zehn Geboten. So ist es und nicht anders", sagt der heute 23 Jahre alte Hamburger Student. Diskussion gab es keine. Was also tun? Hinnehmen oder aufbegehren? Ein Blick in das Lehrbuch von Mankiw und Taylor:
Regel Nummer eins: Alle Menschen stehen vor abzuwägenden Alternativen. Menschen sind Zielkonflikten ausgesetzt.
Samuel Decker entschied sich für Aufbegehren. Gegen die einheitliche Lehre, gegen das alles beherrschende Gesetz des vollkommenen Marktes, gegen die stets präsente Neoklassik. Heute ist er Mitglied im internationalen Netzwerk Plurale Ökonomik, in dem sich mehr als 80 Gruppen aus 30 Ländern organisieren. Im vergangenen Jahr hat die Initiative einen offenen Brief verfasst, in dem sie eine größere Vielfalt in Theorie und Methodik fordert. Doch haben die Proteste Wirkung gezeigt?
Ein Besuch beim Arbeitskreis für plurale Ökonomik an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München. Es ist Montagabend, am Geschwister-Scholl-Platz vor dem Hauptgebäude legt ein DJ auf. Viele Studenten haben sich für die Abendsonne, für Eiscreme und zwanzig Grad statt der Bibliothek entschieden. Einige wenige aber sind bereit, ihre abendliche Freizeit trotz lockender Sonnenstrahlen aufzugeben. Mankiw und Taylor schreiben hierzu:
Regel Nummer zwei: Die Kosten eines Guts bestehen aus dem, was man für den Erwerb eines Guts aufgibt.
An der Fakultät in der Ludwigstraße diskutieren die Studenten und Doktoranden aus dem Arbeitskreis heute über den "Sinn und Unsinn mathematischer Modelle in der VWL". Insgesamt sind zehn Stühle besetzt. Auf einem von ihnen, den anderen frontal gegenüber, hat Waldemar Marz Platz genommen. Er hat den Arbeitskreis vor etwa zwei Jahren an der LMU mitbegründet und promoviert mittlerweile am Ifo-Institut. "Wer steht hier der Mathematisierung in der Ökonomie eher kritisch gegenüber?", fragt der 29-Jährige in die Runde. Fast alle Hände zeigen nach oben. Dieser Abend im Raum 0.26, Rückgebäude, ist nur ein kleiner Ausschnitt der vielen studentischen Initiativen und doch zeigt er, was man bereits vermutet hat: Die Bewegung scheint keine der breiten Masse zu sein, der Mehrheit der VWL-Studenten. Sondern eine der ohnehin schon Engagierten.
Regel Nummer drei: Rational entscheidende Leute denken in Grenzbegriffen. Rationale Menschen geben systematisch und zielstrebig alles, um ihre Ziele zu erreichen.
Leon, 20 Jahre, studiert Philosophie und Volkswirtschaftslehre im Doppelstudium. Dimitra, 25 Jahre, hat neben ihrem Soziologie-Master noch zusätzlich wirtschaftswissenschaftliche Vorlesungen besucht."Das Problem sind nicht die mathematischen Modelle an sich, sondern ihre Autorität und ihr Herrschaftsanspruch. Nur wer so wissenschaftlich arbeitet, kommt in die wichtigen Journals. Alles andere ist dann irrelevant", sagt sie. Ihre Tischnachbarin nickt zustimmend, Leon schreibt auf seinem Tablet mit. Es gibt keine feste Struktur an diesem Abend, keine Power-Point-Präsentationen und keine Tagesordnungspunkte. Vermutlich ist genau das der Rahmen, den eine neue Initiative braucht, um mit alten Strukturen zu brechen. "Stellt alle Fragen, die ihr habt und die ihr euch sonst nicht zu stellen traut", sagt Doktorandin Barbara Brandl. "Ist Inflation wirklich schlecht? Gibt es den rational handelnden Homo oeconomicus?".