Endlich ist, angestoßen auch durch die Debatte in der Süddeutschen Zeitung, eine öffentliche Diskussion über den Zustand und die Zukunft der Wirtschaftswissenschaften entbrannt. Der Essay von ifo-Präsident Hans-Werner Sinn, in dem er an dieser Stelle unter dem Titel "Der große Irrtum" die aktuelle Lehre und Forschung vehement verteidigt, hat heftige Reaktionen hervorgerufen.
Das liegt daran, dass wirtschaftswissenschaftliche Theorien die Politik und Gesellschaft maßgeblich beeinflussen und daher umkämpft sind. Der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Samuelson sagte einmal: "Es ist mir gleichgültig, wer die Gesetze eines Landes macht - solange ich ihre Wirtschafts-Lehrbücher schreiben kann." Es ist daher problematisch, dass die Wirtschaftswissenschaften nur eine einzige Betrachtungsweise kennen: Der Fokus auf Markt und Effizienz dominiert eine Disziplin, die eigentlich wichtige Beiträge zu den akuten Problemen unserer Welt leisten sollte.
Das einseitige Bild von Wirtschaft
Sinn ist einer der bekanntesten deutschen Ökonomen. Was er sagt, findet meist viel Widerhall in der Öffentlichkeit. Er wirft nun den Kritikern der herrschenden Lehre vor, sie hätten die Wirtschaftswissenschaften nicht verstanden. Ökonomen würden nicht an perfekte Märkte glauben, sondern gerade nach ihren Fehlern suchen. Doch genau das ist das Problem der aktuellen Wirtschaftswissenschaft. Sie orientiert sich ständig am Idealbild des Markts und blickt so immer nur aus einer Perspektive auf die Wirtschaft.
Das beginnt schon mit den ersten Vorlesungen im Wirtschaftsstudium. Dort lernen die Studierenden, dass die Wohlfahrt aller Menschen steigt, wenn sie sich auf Märkten eigennützig verhalten. Das ist der Kern der neoklassischen Theorie, die unser Verständnis von Wirtschaft tief geprägt hat. "Der Preis wirkt auf Angebot und Nachfrage" und "so viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig", sind nur zwei von vielen Binsenweisheiten, die wir der Neoklassik zu verdanken haben.
Die aktuelle Situation in den Wirtschaftswissenschaften ist in etwa so, als würde man vor seiner Schlafcouch stehen und sich fragen, warum sie sich nicht mehr vernünftig ausziehen lässt. Wenn man immer wieder von vorn auf diese Couch blickt, wird man nie bemerken, dass an der Rückseite eine rostige Schraube den Auszug blockiert. Dafür muss man die Couch auch von der anderen Seite begutachten. Übersetzt heißt dies: Durch die einseitige und auf den Markt fokussierte Betrachtungsweise der Ökonomik gehen wichtige Erkenntnisse über unsere Wirtschaft einfach verloren.
Ökonomen als Ärzte?
Wie einseitig und problematisch das Idealbild vom Markt ist, wird besonders deutlich, wenn Hans-Werner Sinn Ökonomen mit Ärzten vergleicht. Dieser Vergleich malt zunächst ein positives Bild. Krisen werden mit Krankheiten gleich gesetzt und sind somit die Ausnahme, nicht der Regelfall. Ihre Ursachen sind klar und unumstritten. Der Ökonom als Arzt erscheint als Retter in der Not, der weiß, was gut für den Patienten ist.
Dieses Bild ist jedoch sehr problematisch. Verborgen bleibt, dass so die Wirtschaft mit dem Markt gleichgesetzt wird, der als prinzipiell gesunder Organismus und Ideal gesellschaftlicher Gesundheit verstanden wird. Komplexe wirtschaftliche Realitäten wie die Finanzkrise, in denen ein Zusammenspiel verschiedenster Faktoren beinahe zum Zusammenbruch des Organismus geführt hat, werden auf einzelne Teilaspekte reduziert, wie etwa Eigenkapitalquoten. Eine umfassendere Behandlung, die Krankheiten mit Rückgriff auf vielfältige Ursachen und deren Zusammenspiel erklärt, ist damit aus dem Blickfeld verschwunden.
Auch eine grundsätzlichere Kritik, welche die Krise als Symptom einer viel weitreichenderen Krankheit des gesamten Organismus versteht, unterbleibt. Ursache und Lösungsweg von Krisen sind hoch umstritten. Die eine Wahrheit über die Finanzkrise existiert nicht. Wenn Ökonomen dennoch, wie Ärzte, nur eine einzige Art von Lösung als alternativlos "verschreiben", wird ersichtlich, wie problematisch die Einseitigkeit der aktuellen Wirtschaftswissenschaft ist.
Deutlich wird das etwa im Falle der Austerität in Südeuropa, wo man menschliches Leid als Nebenwirkung einer bitteren Pille beschreibt, die dem Patienten notfalls auch gegen seinen Willen verabreicht werden muss.