Was brauchen die bayerischen Kindertagesstätten, damit die gemeinsame Betreuung von behinderten und nicht-behinderten Kindern wirklich gelingt? Stark verkürzt lautet die Antwort: Mehr Zeit und Beratung durch Experten, mehr Offenheit der Erzieher und deutlich mehr Aus- sowie Fortbildung. Zu diesem Schluss kommen Expertinnen des Staatsinstituts für Frühpädagogik (IFP), die sich für eine neue Studie zwei Jahre lang mit dem Gelingen der "Inklusion vor Ort" beschäftigt haben.
Dafür schrieben sie 2016 alle Kitas Bayerns an, von damals noch knapp 9200 Einrichtungen beantworteten 2800 den Onlinefragebogen. Außerdem sprachen Claudia Wirts, Monika Wertfein und Janina Wölfl mit den Fachdiensten, die Krippen, Kindergärten und Kinderhäuser unterstützen. Heraus kam das umfassendste Bild zu Inklusion in Kitas, das bisher in Bayern ermittelt wurde.
"Die Neugier ist grundsätzlich da, aber Scheu hemmt viele Erzieher", sagt Wirts. Dies sei aus sehr vielen Fragebögen herauszulesen. Allein das Wort "Inklusion" schrecke ab. Dabei würden alle Kinder von individueller, inklusiver Pädagogik profitieren. "Man sollte alle so nehmen wie sie sind und dann schauen, was für jedes Kind das Beste ist", sagt Wertfein. Die meisten Kitas befassten sich erst mit diesem Thema, mit spezieller Förderung, baulichen Maßnahmen oder Hilfsangeboten des Staates, wenn ein behindertes Kind vor der Türe steht. Für die Expertinnen des IFP ist das viel zu spät.
Ohne akuten Fall reagierten viele Erzieher skeptisch. Nur zwei Prozent der Befragten geben an, eine heilpädagogische Zusatzqualifikation zu haben. Dass es selbst bei den integrativ arbeitenden Kitas nur sieben Prozent sind, sei "schockierend" und "ein Problem". Inklusion sei nicht Teil der Erzieherinnenausbildung. Und selbst wenn Kitas sich Heilpädagogen leisten wollen, sind diese derzeit ähnlich begehrt wie Sozialpädagogen. Von 9400 Kitas im Freistaat betreuen etwa 40 Prozent mindestens ein Kind mit Handicap.
Wertfein sagt, sie wünsche sich insgesamt mehr Offenheit von Erziehern. Zumal die Studie widerspiegelt, was Kinderpsychologen, Erzieher und Lehrer seit Jahren feststellen: die Zahl der Verhaltensauffälligkeiten nimmt deutlich zu. Auch in dieser Studie gaben 70 Prozent der Kita-Leiterinnen - zumeist sind es Frauen - an, mindestens ein auffälliges Kind zu betreuen. Also Mädchen und Buben, die aggressives Verhalten zeigen, sich zurückziehen, traumatisiert oder hyperaktiv sind.
"Inklusion fängt nicht mit dem behinderten Kind an"
Wirts und Wertfein nennen sie nach der Definition im Bayerischen Erziehungsplan "Risikokinder", also all jene, deren Entwicklung verzögert ist oder deren Sprache, Motorik, Konzentration oder Wahrnehmung gestört sind. "Inklusion fängt nicht mit dem behinderten Kind an, die Erzieher haben diese schwierigeren Fälle längst", sagt Wertfein. Pädagogen und Politik müssten für echte Inklusion auch diese Risikokinder in den Blick nehmen, ergänzt Wirts.
Die Unterscheidung ist wichtig: Wenn Ärzte eine Behinderung oder eine "drohende Behinderung" festgestellt haben, greifen die Unterstützungssysteme. Die interdisziplinären Frühförderstellen beraten Eltern und Erzieher, Krippen und Kindergärten bekommen mehr Geld und mehr Personal für bessere Betreuung. Für Risikokinder gilt das nicht. Mit ihnen fühlen sich viele Erzieher offenbar allein gelassen. Und nannten fehlende Ressourcen wie Zeit oder Personal häufig als Grund, wieso sie keine behinderten Kinder betreuen.
Dabei bekommen auch sie Hilfe. Theoretisch. Seit 1993 beraten mobile Heilpädagogische Fachdienste (MHFD) Kitas, auch bei verhaltensauffälligen Kindern. Allerdings verfügen die meisten dieser 16 Dienststellen nur über eine Vollzeitstelle, die sich mehrere Berater teilen. Bei 9400 Kitas kommen sie nicht weit. Für Niederbayern und die Oberpfalz gibt es eine Dienststelle in Passau, während sich die anderen über Nord-, West- und Südwestbayern verteilen. Dort wo der MHFD im Einsatz ist, nehmen Erzieher die Tipps und Ratschläge der Experten laut Studie gerne und oft an.
Kitas wollen Hilfe von außen
Wirts und Wertfein befragten auch die MHFD und interdisziplinäre Frühförderstellen zum Gelingen der Inklusion. Beide Fachdienste wünschten sich mehr Zeit für ihren pädagogischen Job sowie Räume für Beratungsgespräche in den Tagesstätten. 84 Prozent der Berater gaben an, dass die Kitas sich Supervision, Hilfe bei Elterngesprächen und Teamentwicklung wünschten, was über die eigentlichen Aufgaben hinaus geht. Die Fachdienste sehen daher die Bezirke in der Pflicht: Diese müssten Kitas besser über finanzielle Leistungen des Staates zu informieren.
Weil sie die Scheu vor Inklusion mit Information vertreiben wollten, haben Wirts und Wertfein 2015 Tipps für Kitas veröffentlicht, denn diese Einrichtungen haben für die Expertinnen eine Schlüsselrolle in der Inklusion: Manche Verhaltensauffälligkeiten können ausgeglichen werden, wenn die Jüngsten gezielt gefördert werden. Damit Dynamik in den Prozess kommt, bräuchte es aber eine Informationskampagne, die Beratung müsste massiv ausgebaut werden und Heilpädagogen in jeder Kita arbeiten.
Alle Kinder würden profitieren, sagt Wertfein. Im Sozialministerium liest man die Studie als Bestätigung für die Arbeit der Unterstützungsdienste. Bisher gibt die Staatsregierung 700 000 Euro für die 16 MHFD aus, Sozialministerin Kerstin Schreyer will dieses Angebot weiter ausbauen. Dem muss nur noch der Landtag zustimmen.