Unter Bayern:Mein Leben mit der Smartwatch

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(Foto: Eduardo Munoz/Reuters)

Das neue Gadget am Handgelenk glaubt stets zu wissen, was ihr Besitzer gerade braucht. Die Überwachung nimmt schnell gruselige Dimensionen an.

Kolumne von Sebastian Beck

Neulich hat sie mich wieder angestupst. Ganz sanft am Handgelenk, fast schüchtern. Sie will ja nur das Beste. "Zeit aufzustehen!", leuchtete auf ihrem Display. Ein wenig gewagt, so mitten in der Vorstellung von Shakespeares "Was ihr wollt" im Münchner Volkstheater. Reihe zehn, Platz sechs. Andererseits wäre es auch ein starkes Zeichen der Sichtbarkeit gewesen, dem Gesundheitstipp der Smartwatch zu folgen. War es nicht Fritz Perls, der Erfinder der Gestalttherapie, der gesagt hat: Wenn das berechtigte Bedürfnis des Individuums mit den Konventionen einer Gruppe kollidiert, kann das eine Neurose auslösen? Also lieber aufstehen, sich zeigen und, nun ja, vor allen Leuten dazu stehen: Ich mache, was mir gerade guttut!

Ich bin aber sitzen geblieben, was die Uhr anscheinend verärgerte. Sie schickte mir bis zum Ende der Vorstellung etliche Eilmeldungen der SZ aufs Handgelenk, außerdem einen Anruf und die Mitteilung, dass noch eine reelle Chance bestehe, die drei Ringe zu schließen: bewegen (rot), trainieren (grün) und stehen (blau).

Seit sie die schöne alte Automatik-Uhr verdrängt hat, wacht sie über mein Leben. Sie erinnert abends daran, dass es Zeit ist, ins Bett zu gehen, sie gibt Trainingstipps ("Kniebeugen - aber wie tief?") und verteilt Belohnungen: Für die Fahrradtour nach Schloss Linderhof (110,94 Kilometer, 2783 Kalorien, 831 Höhenmeter, 127 Durchschnittspuls) gab es vier Auszeichnungen - unter anderem für 400 Prozent Bewegungsziel. Cool!

Schade, dass sich die Smartwatch so schlecht mit der Körperfettwaage versteht. Auch die Blutdruck-App misst bisher unvernetzt vor sich hin. Dabei könnte man aus all diesen Daten eine regelrechte Symphonie komponieren, vorausgesetzt, man berücksichtigte auch noch Sauerstoffsättigung und EKG.

Nur abends, da wirkt die Smartwatch selbst ein wenig schlapp. Da bettelt sie förmlich darum, dass sie vor dem Schlafengehen noch einmal aufs Induktionsladegerät gelegt wird. Das dauert ungefähr eine halbe Stunde. Ein riskanter Zeitraum, weil der Körper währenddessen unbeobachtet bleibt. Man kann die Pause aber auch nutzen, um die alte Automatik-Uhr zu streicheln und sich zu fragen, ob man noch alle Tassen im Schrank hat.

Es ist Freitag, 11.46 Uhr, vor sechs Minuten lag der Puls bei 75 BPM. Der Wetterhinweis zeigt Alarmstufe mittel. Die Temperatur beträgt sechs Grad. Es ist bewölkt. Die Uhr sagt: "Mach weiter so! Du bist nicht zu stoppen." Zeit aufzustehen.

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