Vor gut fünf Jahren soll eine Erzieherin in Schwandorf ein vierjähriges Mädchen ermahnt haben, sie solle "Wurstbrot" sagen und nicht "Wurschtbrot", wie es in der Oberpfalz üblich ist. Der Sprachverein Bund Bairische Sprache kritisierte diese Maßregelung damals als rückschrittlich und weltfremd. Die Ausspracheform "wurscht" sei in ganz Deutschland zu hören. Der Vorsitzende Sepp Obermeier schüttelt über diesen Vorfall heute noch den Kopf und erinnert in diesem Zusammenhang an den Schuldenstreit von anno 2015, als der damalige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble eine rasche Entscheidung von Griechenland über weitere Finanzhilfen forderte und sagte: Um 24 Uhr "isch over". Das badensische Englisch von Schäuble sei allgemein toleriert worden, sagt Obermeier, aber ein vierjähriges Mädchen werde geschimpft, wenn es sich nicht in einem vermeintlich richtigen Hochdeutsch ausdrücke.
Die Frage, was richtiges Hochdeutsch ist, lässt sich nur schwer beantworten. Nach dem Krieg sind viele Nord- und Ostdeutsche in den Süden gezogen, mit der Folge, dass sich dort norddeutsche Regionalismen verbreitet haben und zum Standard erhoben wurden. Überdies wird in den Radio- und Fernsehsendern fast nur noch eine einzige Form des Hochdeutschen gesprochen - und zwar eine ziemlich norddeutsche Variante. "Seitdem herrscht bei den Einheimischen im Süden eine zunehmende Sprachverwirrung, was nun eigentlich Hochdeutsch ist", sagt die Sprechwissenschaftlerin Stefanie Prochazka. Dies führt zu Merkwürdigkeiten wie jener, die von der Kabarettistin Martina Schwarzmann besungen wurde. Eine sprachverwirrte bayerische Mama sagte demnach zu ihrer Tochter, sie solle ihre "Gummelstiefel" anziehen.
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Angesichts dieser Misere haben der Bund Bairische Sprache und der Landesverein für Heimatpflege zum Tag der Muttersprache am 21. Februar eine Aktion gestartet, die Sensibilität für das Problem wecken soll. Die beiden Vereine werben dafür, die regionaltypischen Formen des Südhochdeutschen zu verwenden. "Nur auf diese Weise ist zu verhindern, dass Bayern seine kulturelle und staatspolitische Identität verliert und zum Land der X-Beliebigen wird", sagt Obermeier.
Heißt es nun Kemie, Chemie oder Schemie? Heißt es König oder Könich? Laut Prochazka bekommt man von Sprechbildnern in 999 von 1000 Fällen eine falsche oder unvollständige Antwort. "Sie haben es wiederum von anderen Sprechbildnern so gelernt." Der Irrtum liegt darin, dass Hochdeutsch oft als einheitliche Standardsprache definiert wird. Deshalb geht "der Könich" nun auch in Bayern die Treppe hoch und nicht hinauf, und beim hiesigen Bäcker gibt es Brötchen statt Semmeln. Überall ist von Hinguckern die Rede, selbst beim Bayerischen Wald-Verein, der doch eigentlich den süddeutschen Blickfang verwenden sollte. Und die Zeitungsredakteure kennen nur noch das Verb ausbüxen, wenn die Kühe ausreißen. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen: Die Gelbe Rübe weicht der Möhre, der Rahm der Sahne, die Schaufel der Schippe und der Spezl dem Kumpel. Immer mehr Wörter der süddeutschen Hochsprache werden von ihren norddeutschen Varianten verdrängt. Dabei zählen sie ebenso zu einer regionaltypischen Hochsprache wie ihre norddeutschen Pendants.
Die Forschung unterscheidet zwischen mehreren regionalen Varianten der Hoch- und Schriftsprache. Auch im Süden wird also Hochdeutsch gesprochen, was aber wenig bekannt ist. Stattdessen wird allzu oft nördliches Deutsch für das einzige "reine Hochdeutsch" gehalten. Entsprechend häufig lassen sich Diskriminierungen von Südhochdeutsch-Sprechern beobachten. Der Bund Bairische Sprache und der Bayerische Landesverein für Heimatpflege wollen deshalb mit ihrem Gemeinschaftsprojekt zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit beitragen.
Die Broschüre "Süddeutsche Hochsprache in Altbayern", die gerade erarbeitet wird, soll über regionaltypische Formen des Hochdeutschen informieren und didaktisches Unterrichtsmaterial anbieten. Sie richtet sich an Deutschlehrkräfte aller Schularten, darüber hinaus soll sie auch bei Deutschkursen für Ausländer Impulse geben.
Stefanie Prochazka führt von diesem Mittwoch an auf den Social-Media-Kanälen der beiden Vereine mit Videos in die korrekte Aussprache der süddeutschen Hochsprache in Altbayern ein. Die Kulturschützer fordern dazu: Damit sich die heimische Sprachkultur nicht auflöst, "muss die Politik in Bayern, Baden-Württemberg, Österreich und Südtirol an einem Strang ziehen und das gemeinsame Südhochdeutsch konsequent über den Schulunterricht vermitteln - vor allem auch an die vielen Schülerinnen und Schüler aus zugezogenen Familien".
Es gebe überhaupt keinen Grund, sich als Süddeutscher an die norddeutsche Sprache anzupassen, sagt Prochazka. "Sprache ist ein Kulturgut. Sie gehört zur Identität der Menschen und verleiht einer Gegend Profil." In Zeiten der Toleranz und der gelebten Vielfalt sollte die Sprache nicht zu einem Einheitsbrei verkommen, in dem sich München lautlich nicht mehr von Berlin unterscheidet.