Rudolf Starzengruber atmet tief durch. "Gott sei Dank, ich habe es nicht gemacht", sagt er. Von einem Gebäude wollte sich der Burghausener hinunterstürzen. Mehrmals hatte er dort zuvor die Zahl der Schritte bis zum Sprung ausgemessen. An jenem 5. Dezember 2006 um 19.15 Uhr dreht er aber vor dem Gebäude um, entscheidet sich für das Leben.
Er setzt sich ans Steuer seines Autos, fährt bis fünf Uhr morgens am Münchner Ring im Kreis herum, tankt zwischendurch mehrmals auf. Eine Polizistin, die ihn bereits kontrolliert hatte, rät ihm, zum Arzt zu gehen. Er folgte dem Rat, ließ sich - wovor er immer Angst hatte - sogar auf einen mehrmonatigen Aufenthalt in der Psychiatrie ein. Heute ist er stellvertretender Vorsitzender der Oberbayerischen Selbsthilfe Psychiatrie-Erfahrener. Und wieder hat er Angst: vor dem geplanten Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz der Staatsregierung.
Umstrittener Gesetzentwurf:Bayern will psychisch Kranke wie Straftäter behandeln
Depressive Menschen sollen in Bayern künftig registriert werden - und behandelt, als wären sie Straftäter. Das ist kein Hilfe-, sondern ein Polizeigesetz.
Starzengruber hat sein Leben im Griff, von seiner schweren Depression, begleitet von Angstzuständen und traumatischen Kindheitserinnerungen, ist er jedoch nicht vollständig genesen. Er vertraut auf "ein Potpourri von Hilfsmaßnahmen". Aber was, wenn er selbst oder eher noch andere psychisch Kranke, die er nun berät, in eine ernste Krise gerieten? "Dieses Gesetz ist einfach für Menschen mit psychischen Problemen, die in eine Krise geraten, gefährlich", sagt er. Diejenigen nämlich, die sich wie er noch rechtzeitig Hilfe gesucht hätten, würden nun abgeschreckt.
Mit dieser Meinung steht Starzengruber nicht alleine da. Auch Psychiater haben Bedenken. Tausende psychisch Kranke, die keine Straftat begangen hätten und für die deshalb die Allgemeinpsychiatrie zuständig sei, würden - so wie der Gesetzentwurf formuliert sei - zwischen den Zeilen mit den in der Forensik untergebrachten psychisch kranken Straftätern gleichgesetzt. "Das ist ein riesiges Dilemma", sagt Thomas Pollmächer, der dem Bundesverband "BDK" der leitenden Ärzte von psychiatrischen Kliniken vorsteht. Im vorliegenden Gesetzentwurf werde ein Kontext geschaffen, in dem psychisch Kranke befürchten müssten: "Wenn ich mich jetzt oute, dann laufe ich Gefahr, sofort weggesperrt zu werden", sagt Pollmächer.
Das geplante Hilfe-Gesetz, welches das bislang noch geltende Unterbringungsgesetz aus dem Jahr 1992 ersetzen soll, besteht aus zwei Teilen: Jenem, der die geplanten Hilfsmaßnahmen definiert, und jenem, der festlegt, wie die Unterbringung für Menschen in schweren Krisen zu gestalten ist, in denen sie sich selbst oder andere massiv gefährden.
An Teil eins, erarbeitet vom Gesundheitsministerium, wird zwar auch Kritik geübt, aber es überwiegt die Zustimmung: "Die große Leistung dieses Gesetzes ist die in Deutschland einmalige Einführung eines flächendeckenden Krisennetzwerks mit dem Krisendienst", loben etwa Bayerns Bezirke. Rund um die Uhr sollen diese Dienste bereitstehen, um Betroffenen oder auch ihren Angehörigen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Gelobt wird auch, dass künftig für den Landtag regelmäßig über den Stand der Psychiatrie in Bayern Berichte verfasst werden - ein längst überfälliges Kontrollinstrument.
Für die Erlangerin Brigitte Richter vom Selbsthilfeverein "Pandora" ist das viel zu wenig, um den Titel "Hilfe-Gesetz" gerecht zu werden. "Vier Artikel in diesem Gesetz widmen sich der Hilfe, weit mehr als 30 vom Sozialministerium erarbeitete Artikel hingegen der Unterbringung." Richter könnte sich in Rage reden, tut sie aber nicht. Kühl analysiert sie, was sie aus diesem Gesetzentwurf entfernt wissen will. Etwa, dass die Kliniken die Polizei zu benachrichtigen hätten, wenn sie nach Bewältigung der Krise einen Patienten aus der öffentlich-rechtlichen Unterbringung entlassen wollen.
Betroffenen-Verbände sprechen vom "gläsernen Patienten"
Oft geschieht das bereits nach einigen Tagen. Nach Auffassung des Bayerischen Bezirketags sollte das nur "in sehr seltenen Einzelfällen" erfolgen, dann, wenn es tatsächlich "der Gefahrenabwehr" diene. Richter, selbst Psychiatrie-Erfahrene, sagt: "Der Gesetzentwurf unterstellt jedem psychisch Kranken, der mal einen Unterbringungsbeschluss hatte, dass er letzten Endes gewaltbereit ist." Und das werde in der Gesellschaft auch so abgespeichert. "Das ist eine öffentliche Stigmatisierung, was die da mit uns machen", sagt sie.
Noch heftiger in der Kritik ist indes die geplante Unterbringungsdatei, in der auch sensible Daten gespeichert werden sollen und die für gewisse Behörden wie etwa die Polizei, Kreisverwaltungsreferate oder auch Landratsämter zugänglich sein soll. Auch die Bezirke zweifeln die Notwendigkeit einer solchen Datei an. Die Betroffenen-Verbände sprechen gar vom "gläsernen Patienten - und das sei die einzige Transparenz, die dieses Gesetz schaffe.
Einige leitende Psychiater, etwa Thomas Kallert aus Bayreuth, gehen so weit zu sagen: "Krankenhäuser sind kein Knast." Es stelle sich die Frage, ob Patienten für ihre Genesung tatsächlich Regelungen aus dem Strafvollzug bräuchten? Etwa, was die Überwachung von Besuchern betreffe - bis hin zur Aufzeichnung eines Besuchs.
"Wenn das Gesetz so kommt", so sagt Rudolf Starzengruber, "dann wird es wirklich schlimm." Natürlich habe auch die Gesellschaft ein Anrecht auf Schutz. "Aber der gelingt doch am besten, wenn sich ein psychisch Kranker aus eigenen Stücken rechtzeitig Hilfe sucht." Dazu aber brauche es Vertrauen.