Mentalitätsfragen:Ein Münchner in Nürnberg

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Diesen Saal kennt die Welt. Die Stadt Nürnberg aber kennt so richtig nicht jeder. Auch wenn man nur 160 Kilometer entfernt lebt. (Foto: Christine Dierenbach/obs)

Ein Historiker aus der Landeshauptstadt - Weltbürger und Bildungsmensch - wird Dienststellenleiter in Nürnberg und sagt: Oh, mit der Stadt müsse er sich erst mal vertraut machen, "wie viele Münchner". Das ist ungemein sympathisch - und ein wenig exemplarisch.

Kolumne von Olaf Przybilla

Demnächst beginnt bei der Stadt Nürnberg ein neuer Dienststellenleiter, ein gebürtiger Münchner und fürwahr imposanter Mann: Geschichtsstudium in Berlin, Auslandssemester in Frankreich, Tschechien, Russland, Forschungsarbeiten in Ex-Jugoslawien, Italien, Israel, Stipendium in den USA, beschäftigt in Großbritannien. Seine neue Stadt Nürnberg? Mit der, sagte der künftige Dienststellenleiter bei seiner Vorstellung in den Nürnberger Nachrichten, müsse er sich erst noch vertraut machen. Und fügte hinzu: "Wie viele Münchner."

Das ist, muss man sagen, ungemein offenherzig und eklatant sympathisch. Ist es womöglich auch ein wenig exemplarisch? Wer es beruflich gelegentlich mit Menschen aus dem Süden Bayerns zu tun bekommt, kann sich des Eindrucks nicht erwehren: vermutlich schon, ja.

Nürnberg - ist das nicht diese Stadt mit den Würsten?

Dazu ein kleines Gedankenspiel. Der besagte Dienstellenleiter hat ja Übersee-Erfahrung und als Historiker dort sicher auch andere Historiker kennengelernt. Man stelle sich nun also vor, einer jener Bekannten meldet sich bei ihm für einen Kurztrip nach Bayern.

München also? Oh, sagt der Amerikaner, furchtbar nett dieses Angebot. Und ganz gewiss eine tolle, tolle, tolle Stadt. Aber interessieren, gerade als Historiker, würde ihn vor allem: Nürnberg.

Warum? Gut, darüber müssten sich die beiden eigentlich nicht verständigen, da reden ja zwei Geschichtswissenschaftler miteinander: die Kaiserburg. Das Mittelalter. Die Renaissance. Dürer. Das Germanische Nationalmuseum. Die Fürther Straße, Boulevard der Industriegeschichte. Der Adler. Das Reichsparteitagsgelände. Das Memorium Nürnberger Prozesse.

Gibt es irgendwo mehr deutsche, europäische und Welt-Geschichte auf so engem Raum zu besichtigen wie in dieser Stadt mit den Würsten? Mag man darüber streiten, der Verdacht läge aber nahe: eher nicht, nein.

Wie auch immer, der Amerikaner kommt also an in München, von dort fährt man mit dem ICE eine Stunde nach Nürnberg. Auf der Zugfahrt sagt er: Oh, nur 160 Kilometer? Im amerikanischen Maßstab wäre das quasi ein und dieselbe Stadt.

Und dann stehen da zwei Historiker in Nürnberg, der eine ist US-Amerikaner und der andere ein Bayer aus München. Und Letzterer sagt: Oh mei - mit diesem Nürnberg, da müsse er sich selbst erst mal vertraut machen, "wie viele Münchner".

Ob er es im Ansatz gramgebeugt sagen würde, von hauchzartem Anflug von Scham übermannt? Vermutlich nicht, nein. Und der US-Amerikaner? Würde kurz vor dem Heimflug womöglich in einer Buchhandlung vorbeischauen und fragen, ob sie dort etwas über ein Phänomen haben, das er bei seinem Trip nun wirklich überhaupt nicht verstanden hat: gesamtbayerische Mentalitätsgeschichte.

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