Ehemaliges Reichsparteitagsgelände:"Es war heftig, berührend, regelrecht schlagend"

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"Die Camera Obscura im Atelier" von Günter Derleth und Peter Kunz heißt die erste Sammelausstellung im Nürnberger "White Cube" auf dem früheren Reichsparteitagsgelände. Von 2027 an sollen dort Ermöglichungsräume für Kunst und Kultur zur Verfügung stehen. (Foto: Olaf Przybilla)

Fertig geworden ist Nürnbergs monströse NS-Kongresshalle nie - im dortigen "White Cube" ist nun erstmals Kunst zu sehen. Über das spannungsgeladenste Kulturprojekt der städtischen Nachkriegsgeschichte.

Von Olaf Przybilla, Nürnberg

Susanne Carl hatte Respekt vor dem Ort, vor dem Rohen, Rauen, Harten, Unruhigen. Den "White Cube", wie die Stadt Nürnberg den provisorischen Ausstellungsraum in der ehemaligen NS-Kongresshalle nennt, hatte sie vorab besichtigen dürfen, vor der Eröffnung. Der Moment - alleine in einem brutalen, meterhoch gemauerten Raum - hat sich in ihr Gedächtnis eingebrannt: "Es war heftig, berührend, regelrecht schlagend", sagt die Künstlerin.

Die Werke von 46 Künstlerinnen und Künstlern sind derzeit zu Gast im White Cube, für ein paar Wochen wird dort ein Teil dieses nie fertiggestellten Kongressrundbaus bespielt (bis 2. Juli 2023, jeweils freitags, samstags, sonntags 13 bis 17 Uhr, Eintritt frei). Ein kleinerer Teil freilich. Denn wenn 2027 der Kunstort auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände öffnen soll, dann werden dort plangemäß 7300 Quadratmeter für die Produktion und Präsentation von Kunst zur Verfügung stehen. Der jetzige Cube umfasst nicht mal den zwölften Teil dieser künftigen Fläche.

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Vorläufig gehe es lediglich um eine Art Ausblick, erklärt Kulturbürgermeisterin Julia Lehner. Mit dem Cube wolle man zeigen, welches Potenzial ein neues Kulturareal nicht nur für Nürnberg berge. Soweit zu sehen ist, wird das ausgesprochen gut angenommen. Kein Wunder: Zusammen mit dem auf demselben Areal entstehenden Operninterim entsteht dort gerade das wohl spannungsgeladenste Kulturprojekt der Nürnberger Nachkriegsgeschichte.

Das Wort "White Cube" will die Stadt dabei verstanden wissen als eine "frei bespielbare, neutrale Fläche", die immer wieder neu interpretiert werden darf. Den Begriff empfindet Susanne Carl als bedingt passend, sind doch die Ausstellungsräume nur an den wenigsten Stellen weiß - und schon gar nicht neutral. Im Gegenteil: Dieser Ort, ob man es wolle oder nicht, nehme unweigerlich Einfluss auf die Kunst.

Der Bildhauer Holger Lassen hat die Plastik links beigesteuert, Susanne Carl die Arbeit rechts. (Foto: Olaf Przybilla)

Nicht zuletzt an dem von ihr beigesteuerten Werk, "Zustand 1" genannt, lässt sich das gut veranschaulichen. Es war auch die schiere Größe dieser überlebensgroßen Arbeit, warum Carl sie für die Sammelausstellung ausgesucht hat: Wann hat man schon mal bis zu zehn Meter hohe, unverputzte Backsteinwände zur Verfügung? Eigens angefertigt indes hat Carl das Opus nicht, auch wenn die darauf zu sehende zierliche Frau mit Maske - die Arme schnurgerade an den Körper geschmiegt - wie ein Kommentar aufs Nazi-Gelände wirken mag. Da ist ein Mensch mit streng uniformiertem Gesichtsausdruck und eingeübter Haltung, gleichsam die massenhafte 08/15-Ausgabe des Homo sapiens. Und der erhebt sich über andere.

Dass die gewählte Figur zum Zweck des Sich-Erhebens ein Sofa besteigt, dürfte - wäre die Arbeit als bewusster Kommentar aufs Gelände gemeint - als künstlerische Freiheit durchgehen. Zumal das genutzte Möbel offenkundig alt ist: Da steigt also jemand auf ein Stück Geschichte. Was auf dem Nürnberger Gelände der uniformierten Massen auch schon mal behauptet worden ist.

Der Ausstellungsort, so zeigt bereits dieser schmale Ausschnitt, formt die dort präsentierte Kunst also unvermeidlich mit. Den Bildhauer Holger Lassen, dem der Platz direkt neben der Arbeit von Susanne Carl zugewiesen worden ist, hat dieser Gedanke schon bei seiner Werkauswahl umgetrieben. Oberflächliche Zeitgenossen, erzählt er freimütig, wollten in seiner Kunst schon mal Anklänge an Arno Breker entdeckt haben - jenen historischen Kollegen also, der in der dunklen Zeit, für die das Nürnberger Gelände steht, in die Liste der "Gottbegnadeten" aufgenommen wurde.

Das Gelände mache einen unvermeidbar zum politischen Künstler, sagt ein Bildhauer

Was also, wenn erneut jemand nur flüchtig hinschaut? Holger Lassen - Abitur in Nürnberg, Atelier in Braunschweig - hat auch aus dieser Überlegung heraus die sichere Variante gewählt. Für seine Arbeit "Edson", vor mehr als zwei Jahrzehnten entstanden, hat ein Mensch mit schwarzafrikanischen Wurzeln Modell gestanden. Er sei alles andere als ein politischer Künstler, sagt Lassen. Nur: Das Gelände mache einen förmlich dazu. Dass "Edson" dort eine politische Dimension bekommt, lasse sich gar nicht vermeiden.

Diversität als Ziel ist auch ein Grund, warum die Wahl für diese erste Präsentation im "White Cube" auf die Ausstellung namens "Die Camera Obscura im Atelier" gefallen ist. Für sie hat der Fotograf Günter Derleth mit seiner Lochkamera mehrere Dutzend Ateliers besucht und im Bild festgehalten, der Künstler Peter Kunz hat die darin Arbeitenden porträtiert. Für die Kongresshalle war das Projekt ursprünglich nicht gedacht, als Szene-Querschnitt bot sie sich nun aber an. Auch wenn die unterschiedlichen Schichten der Schau - Ateliers durch eine Lochkamera, Porträtbilder, das Werk der Porträtierten, der "White Cube" - nun Zeit notwendig machen, um als Besucher all den Schichten einigermaßen gerecht zu werden.

An der Stelle, an der Andrea Sohlers kleinformatige Arbeiten zu sehen sind, gleicht der Ausstellungsraum am ehesten einem "White Cube". (Foto: Olaf Przybilla)

"White Cube"? Auch die Künstlerin Andrea Sohler findet den Namen irreführend - auch wenn die geweißelte Nische, in der ihre kleinformatigen Arbeiten nun zu sehen sind, dem Begriff noch am ehesten nahekommt. Das Weiß dort stammt noch von Vormietern; die NS-Bauherren waren ja nicht die letzten Nutzer in dem Torso, bis vor Kurzem wurde die Kongresshalle vor allem als Lager genutzt. Dass der gesamte Bau längst unter Denkmalschutz steht, dürfte für das Projekt "Kunstort 2027" eine der größten Herausforderungen werden - was man jetzt bereits zu spüren bekommen hat: Einfach irgendwo in den Backstein durfte man nicht schlagen, um die Kunstwerke zu befestigen. Nur in die Fugen.

Aufgrund der gewöhnungsbedürftigen Temperaturen im Bau macht auch schon das Wort von der "Kunstkältekammer" die Runde, trotz aller Widrigkeiten aber findet es Sohler "völlig richtig", das Areal künftig mit Kunst zu bespielen. Das Interesse sei da, sagt sie, "und als Künstlerin ist man Zwischennutzungen ohnehin gewöhnt". Wobei die bildende Kunst - im Gegensatz zur Oper - auf dem Gelände ja sogar eine dauerhafte Heimat finden soll.

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