München:Gutachten zu sexuellem Missbrauch vermehrt Kirchenaustritte

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Nach dem Gutachten zu sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Erzbistum München und Freising wenden sich vermehrt Gläubige von der katholischen Kirche...

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München (dpa/lby) - Nach dem Gutachten zu sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Erzbistum München und Freising wenden sich vermehrt Gläubige von der katholischen Kirche ab. Die bayerischen Standesämter rüsten sich deshalb für eine Flut von Kirchenaustritten. Selbst der ehemalige Generalvikar des Erzbistums, Peter Beer, zeigte sich in einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ (Donnerstag) erschüttert: „Diese Kirche kann sich nicht selbst aufklären. Das ist meine bittere Erfahrung.“ An diesem Donnerstag will sich der amtierende Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, zu dem Gutachten äußern.

Das Gutachten hatte vergangene Woche aufgezeigt, dass Fälle von sexuellem Missbrauch in der Diözese über Jahrzehnte hinweg nicht angemessen behandelt worden waren. Den ehemaligen Erzbischöfen Friedrich Wetter und Joseph Ratzinger, dem heute emeritierten Papst Benedikt XVI., wird in dem Gutachten konkret und persönlich Fehlverhalten in mehreren Fällen vorgeworfen. Auch Kardinal Marx wird formales Fehlverhalten in zwei Fällen vorgeworfen.

Dem Gutachten zufolge gab es mindestens 497 Opfern und 235 mutmaßliche Täter, die Experten gehen aber von einem deutlich größeren Dunkelfeld aus. Die Veröffentlichung hatte bayernweit eine Welle der Erschütterung und Empörung ausgelöst. Allein in München wurden nach Angaben des Kreisverwaltungsreferates seit Veröffentlichung des Gutachtens am vergangenen Donnerstag rund 650 Termine für Kirchenaustritte gebucht. Das seien deutlich mehr als doppelt so viele wie üblicherweise zu erwarten gewesen wären, sagte ein KVR-Sprecher.

Um diese Flut zu bewältigen, erweitert das Münchner Standesamt seine Öffnungszeiten und verdreifacht seine Kapazitäten. Aber selbst das werde voraussichtlich nicht reichen, hieß es. Auch die Städte Regensburg, Ingolstadt und Würzburg reagieren und bauen ihre Kapazitäten aus. In Würzburg waren seit Donnerstag fünfmal so viele Anfragen wegen eines Kirchenaustritts eingegangen wie im gleichen Zeitraum 2021. In Ingolstadt sind alle Termine zum Kirchenaustritt bis Mitte März ausgebucht. Die Nachfrage sei aber so groß, dass es zusätzliche Kapazitäten geschaffen würden, sagte ein Sprecher. In Regensburg will das Standesamt ab Februar „das Terminangebot erweitern“.

Nicht weit von München entfernt, in Ebersberg, wo das Amtsgericht Ende der 1980er Jahre einen Priester wegen sexuellen Missbrauchs verurteilte, bevor dieser in einer anderen Gemeinde wieder eingesetzt und dort erneut rückfällig wurde, hat sich die Zahl der Austritte in den ersten Wochen des Jahres fast verdoppelt.

Die Reformbewegung „Wir sind Kirche“ forderte die Gläubigen hingegen auf: „Auftreten statt Austreten: Wer die langen Jahre unter Papst Johannes Paul II. und Joseph Ratzinger/Papst Benedikt VXI. in der Kirche ausgehalten hat, sollte gerade jetzt nicht gehen, sondern die Reformgruppen wie „Wir sind Kirche“ oder Maria 2.0 unterstützen.

Auch der Vatikan meldete sich zu Wort: Man solle sich nun nicht nur auf den emeritierten Papst Benedikt fokussieren, der nach der Veröffentlichung des Gutachtens eine Falschaussage eingeräumt hatte. Vielmehr sei es nun wichtig, Lehren für die Zukunft zu ziehen, schrieb Mediendirektor Andrea Tornielli am Mittwoch in einer Stellungnahme des Heiligen Stuhls. Die Bewertungen des Berichts „werden zur Bekämpfung der Pädophilie in der Kirche beitragen können, wenn sie sich nicht auf die Suche nach bloßen Sündenböcken und auf Pauschalurteile beschränken“.

Münchens ehemaliger Generalvikar Peter Beer, der im Gutachten für seine Aufklärungsarbeit gelobt wird, berichtete in einem Interview mit der „Zeit“ von massiven kircheninternen Widerständen. „Wenn du Hierarchien angreifst, Herrschaftswissen transparent machen willst, wird blockiert und zurückgeschossen.“

Der Betroffenenbeirat im Bistum Passau warnte derweil, die Opfer nicht aus dem Blick zu verlieren - sie kämen in der öffentlichen Wahrnehmung zu kurz. „Ganz Deutschland spricht über das Versagen der katholischen Kirche, über Vertuschung, fehlerhafte und verschwundene Personalakten und über Rücktritt von prominenten Bischöfen und Kardinälen“, hieß es in einer Stellungnahme. „Aber kaum jemand nimmt das grenzenlose Leid der von Missbrauch Betroffenen, die schon als Kinder zu Opfer wurden und unter massiven lebenslangen Folgen leiden, zur Kenntnis, wenn ja, dann nur als Randnotiz.“

© dpa-infocom, dpa:220126-99-862088/3

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