Erinnerungskultur:Nazi-Lehrer oder Vorbild?

Lesezeit: 3 min

Wie haben Menschen in Kempten die Nazi-Zeit zwischen 1933 und 1945 erlebt? Ein Interviewprojekt stellt die Erinnerungen von Zeitzeugen zusammen. (Foto: Stadtarchiv Kempten)

Ein Interviewprojekt arbeitet in Kempten die Zeit des Nationalsozialismus auf. Wie unterschiedlich sich die Beteiligten erinnern, zeigt, wie ungleich die Erfahrungen damals waren.

Von Florian Fuchs, Kempten

Manche Erinnerungen brennen sich ein ins Gedächtnis, wie das der jüdischen Frau auf dem Wochenmarkt. Dieser Wochenmarkt in Kempten war während der Zeit des Nationalsozialismus für Juden gesperrt. Als besagte Jüdin sich dort dennoch blicken ließ, wurde sie verjagt. "Das hat die Menschen so beschäftigt, das haben sie internalisiert", sagt Veronika Heilmannseder. "Das wurde auch an die nächsten Generationen weiter erzählt innerhalb der Familie."

Die Historikerin betreut das Zeitzeugenprojekt der Stadt Kempten. In den vergangenen zwei Jahren hat sie 16 Menschen zu ihren Erlebnissen im Nationalsozialismus interviewt, die damals in der Stadt im Allgäu lebten. Die NSDAP und ihren Unrechtsstaat von 1933 bis 1945 erlebten die Bürger demnach sehr unterschiedlich. Die neun Frauen und sieben Männer erzählen von unmittelbarer Gewalteinwirkung durch Staat und Parteiorgane und von alltäglicher Angst und Sorge um Verfolgung - aber auch von Berührungspunkten mit der NSDAP und ihren Einrichtungen, die positiv im Gedächtnis haften blieben.

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Das Zeitzeugenprojekt ist Teil einer großangelegten Aufarbeitung der NS-Zeit in Kempten, die die Stadt angestoßen hat. Es gibt eine Kommission für Erinnerungskultur, inzwischen auch eine Stadtführung zu bedeutsamen Orten der nationalsozialistischen Zeit in Kempten. Das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin arbeitet daran, die NS-Geschichte der Stadt mit den Schwerpunkten auf Stadtgesellschaft und Verwaltung wissenschaftlich aufzubereiten. Die Forscher beleuchten zum Beispiel auch die Rolle des damaligen, langjährigen Oberbürgermeisters Otto Merkt, der die Region zwar unzweifelhaft positiv geprägt hat, aber auch ein Anhänger etwa der nationalsozialistischen Ideen zur Rassenhygiene war. Für eine mittelgroße Stadt in Bayern habe das Vorhaben in Kempten "Leuchtturmcharakter", hat der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, Andreas Wirsching, im vergangenen Jahr betont.

"Niemand ging schlafend durch diese Zeit. Alle hatten unmittelbare Berührungspunkte mit dem Nationalsozialismus", sagt Heilmannseder. Allerdings hat sich in den Befragungen gezeigt, dass schon allein Wohnlage und Herkunftsmilieu innerhalb einer 30 000 Einwohner zählenden Stadt wie Kempten darüber entscheiden konnte, "inwiefern der Nationalsozialismus als attraktiv, hinnehmbar, unrecht oder bedrohend empfunden und erlebt" wurde. So steht es im Zwischenbericht des Kulturamts und des Heimatvereins Kempten. Wenn ein Bub in einem Stadtteil mit hoher Dichte an politischen und militärischen Würdenträgern aufgewachsen ist, hat er den Blockwart als freundlichen Mann in Erinnerung - weil dieser sich in Gegenwart der Funktionäre zu benehmen hatte. In anderen Stadtteilen lebten viele Familien mit Söhnen, die zum Kriegsdienst eingezogen wurden - dort standen leidvolle Erinnerungen im Vordergrund.

"Man kann nicht einfach sagen, frag die Leute, die die Zeit erlebt haben, dann weiß man, wie es war."

Kulturamtsleiter Martin Fink und Historikerin Heilmannseder ziehen deshalb als wesentliches Fazit aus den Befragungen, dass man Aussagen aus Interviews kombinieren und letztlich immer den Erfahrungshorizont der Zeitzeugen beachten müsse. "Man kann nicht einfach sagen, frag die Leute, die die Zeit erlebt haben, dann weiß man, wie es war." Es ging zunächst darum, Interviewpartner zu finden - die Stadt freut sich auch weiterhin über Zeitzeugen, die sich melden -, und ihre Aussagen zu dokumentieren. Die Interviews etwa mit Josef Höß, Oberbürgermeister in Kempten von 1970 bis 1990, wurden gefilmt, die meisten anderen zum Nachhören aufgenommen. Für die Seniorinnen und Senioren war es so leichter, sich zu öffnen. "Die Gespräche waren sehr intensiv und fordernd für die Zeitzeugen", sagt Heilmannseder.

Die meisten Interviewten sind in Kempten geboren, als Kinder zugezogen oder haben ihre Schulzeit in der Stadt erlebt. Die Tochter einer katholisch-gläubigen Handwerkerfamilie erinnert sich, wie ihre Brüder wegen eines Messdienstes verprügelt wurden. Eine Interviewpartnerin ist die Schwester eines ermordeten, behinderten Mädchens, das in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren/Irsee zu Tode kam. Die Erzählungen, heißt es im Zwischenbericht, zeugen auch von der "wachsenden Alltäglichkeit der NS-Gesetze und NS-Organe", wie sich die NS-Diktatur ausbreitet - und wie sich der Alltag in ihr gestaltete.

Die Stadt plant in einem zweiten Schritt auch Zeitzeugen zu befragen, die die Nachkriegszeit erlebt haben. Im Grunde hat das gesamte Projekt zur Aufarbeitung der NS-Zeit in Kempten hier ihren Anfang genommen: am Fall des ehemaligen Heimatforschers und Gymnasiallehrers Richard Knussert. Eine nach ihm benannte Straße wurde inzwischen umbenannt. Seine beiden ehemaligen Schüler Georg Karg, emeritierter Professor für Wirtschaftslehre an der TU München, und der Augsburger Theologe Michael Mayr haben geschildert, wie Knussert noch in den 1950er-Jahren im Unterricht das NS-Regime verteidigt und die Judenvernichtung geleugnet haben soll. Andere wiederum erinnern sich an ihn einzig als tollen Lehrer.

"Auf den ersten Blick passt das nicht zusammen", sagt Kulturamtsleiter Fink. "Wenn man genauer hinschaut, aber eben doch. Erinnerung ist sehr subjektiv."

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