Filmgeschichte:Als ein Dorf in Aufruhr war

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Der Autor Martin Sperr spielte die Hauptrolle. (Foto: Angelika Stute/ZDF)

Vor 50 Jahren hatte Peter Fleischmanns Film "Jagdszenen aus Niederbayern" Premiere. Damals waren die Leute empört, heute sind in Unholzing viele stolz.

Von Hans Kratzer, Landshut

"Am liebsten würde ich das ganze Kino mit dieser Schweinerei in die Luft fliegen lassen!" Finstere Drohungen wie diese waren im Frühjahr 1969 in den Leserbriefspalten der Landshuter Zeitung zuhauf zu lesen. Die Volksseele kochte beinahe über. Den Grund lieferte Peter Fleischmanns Kinofilm "Jagdszenen aus Niederbayern", der in diesen Tagen vor 50 Jahren Premiere feierte und den Nerv einer Gesellschaft traf, die sich von der NS-Zeit noch nicht hundertprozentig gelöst hatte und ihr altes Wertesystem verunglimpft sah.

Der Film richtete sich offen gegen die Diskriminierung von Schwulen. Immerhin war schwuler Sex in jener Zeit noch strafbar. Ein Leser schrieb empört, er habe "sich noch ein wenig natürliches Empfinden bewahrt in einer Zeit der Unnatur". Das Entsetzen über den Film ging so weit, dass einige Landshuter Stadträte das Kino während der Vorführung verließen.

Im Film "Jagdszenen aus Niederbayern" spielten viele Laien an der Seite professioneller Darsteller mit. (Foto: Angelika Stute/ZDF)

Welche Wut gesellschaftliche Außenseiter damals im Bürgertum auszulösen vermochten, hatte Fleischmann bereits 1967 in seinem Film "Herbst der Gammler" anklingen lassen. "Ein kleiner Hitler" wäre recht, dieser Satz war damals oft zu hören. Vor diesem Hintergrund versetzte Fleischmanns Film, der in dem nördlich von Landshut gelegenen Dorf Unholzing gedreht wurde, ganz Niederbayern in Aufruhr. Dabei hatte er lediglich das Thema eines gleichnamigen Volkstheaterstücks aufgegriffen, das drei Jahre vorher in Bremen unter dem Jubel der Kritik uraufgeführt wurde.

Der damals erst 22-jährige Autor Martin Sperr schildert darin die Geschichte eines Dorfes, das sich zu einer Hetzjagd auf einen jungen schwulen Mechaniker hinreißen lässt. Es war eines der ersten Stücke, das sich ernsthaft mit dem Thema Homosexualität auseinandersetzte und mit den daraus resultierenden Verwerfungen in einer bigotten Dorfgemeinschaft. Als der junge Homosexuelle Abram in sein Heimatdorf zurückkehrt, hänseln ihn die Bauern, die eigene Mutter nennt ihn "Drecksau", es entwickelt sich eine pogromartige Stimmung, bis Abram zuletzt die "Dorfhure" Hannelore tötet, den einzigen Menschen, der ihm Verständnis und Zuwendung entgegenbringt.

Für Schauspielerin Hanna Schygulla war der Film das Sprungbrett zu einer Weltkarriere. (Foto: Angelika Stute/ZDF)

Sperr avancierte mit diesem Stück sehr schnell zu einem Star in der deutschsprachigen Theaterlandschaft. Obwohl die Kinoversion weltweit Lorbeeren einheimste, verwahrten sich die Menschen in Niederbayern gegen dieses in ihren Augen falsch intonierte Dorf-Psychogramm. Autor Sperr, der im Film die Hauptrolle des Abram spielt, wurde übel verleumdet und beschimpft. Heute zählt er zu den bedeutendsten Dramatikern der Nachkriegszeit.

Angela Winkler wurde danach zum Filmstar. (Foto: Angelika Stute/ZDF)

Zwar hatte sich die Dorfgemeinschaft damals in einer Abstimmung für Unholzing als Drehort ausgesprochen, aber viele waren davon ausgegangen, es werde ein Film über die Jagd gedreht.

Die "Jagdszenen" schrieben aber nicht nur mit der Kontroverse, die der Film entfachte, Kinogeschichte. Vielmehr waren darin die Schauspielerinnen Angela Winkler und Hanna Schygulla, zwei spätere Filmstars, erstmals auf der Leinwand zu sehen. Angela Winkler hatte in ihrer Debütrolle als Hannelore so überzeugt, dass sie Peter Stein in seine Berliner Schaubühne holte und Volker Schlöndorff ihr die Hauptrolle im Film "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" anvertraute. Auch für Hanna Schygulla bildeten die "Jagdszenen" das Sprungbrett zu einer Weltkarriere. Eine andere Frau ist seinerzeit haarscharf an einem Filmerfolg vorbeigeschrammt. Die Zwieselerin Marianne Stettner war noch eine 16-jährige Klosterschülerin, als sie Fleischmann auf einem Volksfest in Bogen entdeckt hatte. "Die will ich als Hauptdarstellerin", sagte er spontan und drehte mit ihr einige Voraufnahmen. Nachdem Mariannes Vater das Drehbuch gelesen hatte, rief er erbost bei Fleischmann an. "Für eine solche Schweinerei geb' ich mein Kind nicht her", pulverte er, "zu meiner Tochter sagt niemand Hur." Aus war der Traum.

"Es ging mir weder ums Dorf noch um Schwule"

Freilich erhoben sich damals auch andere Stimmen. Selbst bei den Lesern der Landshuter Zeitung stieß der Film nicht nur auf Ablehnung. Manche ärgerten sich vielmehr über "den braunen Mief, der aus vielen Briefen quillt". Über Fleischmanns Film wurde noch viele Jahre lang tiefsinnig psychologisiert. Die Filmkritik weist ihm heute noch Aktualität zu, "weil er die Verführbarkeit der Masse gegen Andersdenkende und Andersartige bloßlegt." "Es ging mir weder ums Dorf noch um Schwule", sagt Fleischmann heute. "Das Böse ist in uns. Insofern könnte die Geschichte auch in einer Fernsehanstalt oder in einem Großraumbüro spielen."

Ungeachtet dessen bietet der Film 50 Jahre nach seiner Entstehung auch eine einzigartige Dokumentation des Landlebens vor dem Eindringen von Flurbereinigung und Agrarindustrie. "Die Szenen sind so reich im Detail, als hätten Brueghel und Flaubert zusammengewirkt", schrieb einmal ein Filmkritiker. Wer je in einem Dorf gelebt hat, kennt all die Charakterköpfe, die man nie mehr vergisst - im Film kann man solche Typen noch einmal intensiv erleben. "Das ist total authentisch", sagen alte Unholzinger. Sie sind heute fast alle stolz, in die Filmgeschichte eingegangen zu sein. Die Zeiten, in denen sie als "sündiges Dorf" verschrien waren, sind definitiv vorbei. Vielleicht nicht ganz. Als Marcus H. Rosenmüller vor Jahren seinen Film "Sommer in Orange" in einem Anwesen in Unholzing drehen wollte, willigte der Besitzer dann doch nicht ein.

Peter Fleischmann hat nur gute Erinnerungen an die "unglaublich freundlichen Menschen" in Unholzing. Johann Brunner, einer der fabelhaften Laiendarsteller, der den Knecht Hiasl mimte, sagte noch auf dem Sterbebett: "Die Dreharbeiten waren die schönste Zeit meines Lebens."

© SZ vom 01.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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