Modellprojekt am Bodensee:Ein Dorf für Demenzkranke

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De Hogeweyk, so heißt das Dorf in der Nähe von Amsterdam, das Fachleute aus der ganzen Welt anzieht. 152 Menschen leben dort in 43 Wohnungen für Demenzkranke. Es sieht anders als normale Pflegeheime aus. Hier steht die Lebensqualität der Bewohner im Vordergrund, nicht die Versorgung von Kranken. (Foto: imago stock&people)
  • Wie kann man Demenzkranken ein würdevolles Leben ermöglichen, sie nicht einschränken und trotzdem ihre Sicherheit gewährleisten?
  • In der 2000-Einwohner-Ortschaft Hergensweiler bei Lindau soll für 30 Millionen Euro das Dorf "Hergensweiler Heimelig" entstehen.
  • Das Problem: Es gibt Kritik an dem Konzept, kaum Fördermöglichkeiten und jetzt soll es in Hergensweiler erst einmal ein Bürgerbegehren geben, ob das Dorf überhaupt entstehen darf.

Von Florian Fuchs, Hergensweiler

Ein Schlüsselerlebnis, erzählt Anke Franke, sei eine Bewohnerin gewesen, die eines Abends, es war November und neblig, plötzlich im Gleisdreieck am Bahnhof Lindau herumlief. Franke ist Geschäftsführerin des Alten- und Pflegeheims Maria-Martha-Stift in Lindau, das Heim hatte die demenzkranke Bewohnerin mit einem GPS-Sender ausgestattet, um sie schnell wieder zu finden, falls sie die Einrichtung verlässt. "Das Ergebnis war, das wir die Behörden angerufen haben: Die mussten für 20 Minuten den Verkehr lahmlegen."

Wie kann man Demenzkranken ein würdevolles Leben ermöglichen, sie nicht sedieren, nicht in ihrem Bewegungsdrang einschränken, und trotzdem ihre Sicherheit gewährleisten? Das war die Frage, die Franke sich stellte, und die sie auch heute noch umtreibt. Die Idee entstand, kein neues Pflegeheim zu bauen, sondern ein bayerisches Modellprojekt Wirklichkeit werden zu lassen: ein Dorf für Demenzkranke, mit allem, was dazugehört, Supermarkt, Gaststätte und Friseur. 30 Millionen Euro würde der Bau des Dorfes "Hergensweiler Heimelig" kosten, das in der 2000-Einwohner-Ortschaft Hergensweiler bei Lindau entstehen soll. Das Problem ist: Die Genehmigungen ziehen sich hin, Förderungen in Millionenhöhe stehen deshalb auf der Kippe. Und in Hergensweiler soll es erst einmal einen Bürgerentscheid geben, ob die Einheimischen das Dorf in ihrer Nachbarschaft akzeptieren.

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128 Menschen sollen in dem 30 000 Quadratmeter großen Dorf wohnen, das aus 16 Wohneinheiten bestehen wird. Und in dem, so steht es auf einer Projekthomepage, "alles ans Leben und nichts an Pflegeheim oder Krankenhaus" erinnern soll. Vorbild ist ein Projekt in den Niederlanden, "De Hogeweyk", in das Träger sozialer Einrichtungen aus der ganzen Welt reisen, um sich inspirieren zu lassen. Auch Franke ist dort hingereist, unter anderem mit dem Bürgermeister von Hergensweiler, Wolfgang Strohmaier. Auch Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU) habe das Vorzeigeprojekt besichtigt, erzählt Franke, und für gut befunden. Also machte sich Franke daran, selbst ein Konzept zu erstellen. "Wenn ich gewusst hätte, dass es so zäh wird, hätte ich es vielleicht gar nicht angefangen", sagt sie heute.

Es gibt Vorgaben, die man beim Bau von Pflegeheimen beachten muss, diese Richtlinien sind aber mit einem völlig neuen Projekt wie "Hergensweiler Heimelig", nicht vereinbar. Zum Beispiel ist in Heimen eine Fachkraftquote von 50 Prozent vorgeschrieben, die bräuchte Franke aber gar nicht in ihrem Dorf. "Wir hätten dort völlig andere Bedürfnisse als in normalen Heimen", sagt sie. Viele Hol- und Bringdienste zum Beispiel, das könnten auch Pflegehelfer. Franke muss aber nachweisen, dass das Dorf nach dem Bau wirtschaftlich betrieben werden kann: Und das gelingt nicht, solange sie eine 50-Prozent-Fachkraftquote ansetzen muss. Oder die Sache mit den Duschen: Vorgeschrieben ist eine Nasszelle für jedes Zimmer. Das, kritisiert Franke, sei überflüssig. Acht Bewohner sollen in einem Haus wohnen, wie in einer Wohngemeinschaft. "In einer WG hat auch nicht jeder ein eigenes Bad."

Anke Franke ist Geschäftsführerin der evangelischen Diakonie Lindau. Sie leitet das mehrfach ausgezeichnete Maria-Martha-Stift, ein Alten- und Pflegeheim der Diakonie. (Foto: Felix Kästle)

In Hameln in Niedersachsen gibt es bereits ein ähnliches Projekt, das bundesweit bislang einzige, das sich ebenfalls das niederländische Dorf zum Vorbild genommen hat. Dort aber, sagt Franke, habe man Vorschriften, die für Heime gelten, übernommen und sei deshalb viele Kompromisse eingegangen. Das hat aus ihrer Sicht keinen Sinn, weshalb sie seit Jahren von Ministerium zu Ministerium und von Sozialhilfeträger zu Pflegekassen rennt. "Hergensweiler Heimelig" müsste als Modellprojekt anerkannt werden, um Ausnahmen von bestehenden Richtlinien zu ermöglichen. Erst so wäre die Finanzierung gesichert, die laut Frankes Rechnung aus 15 Millionen Euro Fördergeldern bestehen würde.

Wie man die Bewohner schützt? Mit Absperrungen, aber ohne Zäune

Die große Mehrheit der Fachleute unterstützt das Konzept, wenige Kritiker lehnen ein Dorf für Demenzkranke ab. Sie sprechen davon, dass Menschen in einer solchen Anlage ausgelagert würden, dass man ihnen eine Scheinwelt vorspiegele. Mit solchen Argumenten kann Pflegeexpertin Franke nichts anfangen. In manchen Heimen, klagt sie, würden dreidimensionale Folien auf Aufzugtüren geklebt, damit Demenzkranke nicht den Ausgang finden und weglaufen können. Natürlich gäbe es auch in "Hergensweiler Heimelig" Absperrungen. "Aber keine Zäune", sagt Franke. So befände sich auf einer Seite ein Sportplatz mit einem ohnehin vorhandenen Fangzaun, ein Stück weiter sei das Gehege eines Streichelzoos das natürliche Ende der Anlage. Die Wege im Dorf seien so angelegt, dass die Bewohner ihren für Demenzkranke typischen Bewegungsdrang ausleben und dennoch nicht in gefährliche Situationen geraten könnten.

"Ich halte das für ein tolles Konzept", sagt deshalb Hergensweilers Bürgermeister Wolfgang Strohmaier. Weil so ein 30 Millionen Euro teures Projekt für eine kleine Gemeinde aber schon "eine bemerkenswerte Größenordnung" ist, wie er sagt, sollen die Hergensweiler darüber abstimmen.

Bei einer Informationsveranstaltung haben Bürger auch kritisch nachgefragt, insgesamt ist die Stimmung laut Strohmaier und seinem Zweiten Bürgermeister Josef Kohl aber positiv. Franke sieht einen Bürgerentscheid ohnehin als geringstes Problem. Sie muss gemeinsam mit ihrem Team von der Diakonie in Lindau nun erst einmal alle bürokratischen Hürden meistern. Das, sagt sie, könne noch eine Weile dauern. Hoffnungen setzt sie dabei auf Bundesentwicklungsminister Gerd Müller. Der CSU-Politiker ist Schwabe und hat ihr seine Unterstützung zugesagt.

© SZ vom 30.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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