Gutachten:SPD fordert: Eltern sollen über Schullaufbahn entscheiden

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  • Die SPD-Fraktion hält die Regelungen zum Übertritt auf Gymnasien oder Realschulen in Bayern für verfassungswidrig und erwägt eine Klage.
  • Dazu hat die Fraktion ein Gutachten in Auftrag gegeben.
  • Der Vorschlag der Sozialdemokraten: Die Eltern sollen entscheiden, aber erst nach einem verpflichtenden Beratungsgespräch.

Von Anna Günther, München

Das bayerische Übertrittsverfahren von der Grundschule in weiterführende Schulen verstößt womöglich gegen das Grundgesetz. Die SPD-Fraktion im Landtag hat ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben und behält sich auch eine Popularklage vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof vor. Wolfram Cremer, der Leiter des Instituts für Bildungsrecht und Bildungsforschung an der Uni Bochum, wird bis September das Gutachten erstellen.

Bayern und Sachsen sind die einzigen Bundesländer, die eine Übertrittsempfehlung noch verbindlich aussprechen und an Noten festmachen. In den 14 anderen Ländern entscheiden die Eltern allein oder bekommen vorher noch Empfehlungen von Lehrern. In diesen Tagen warten wieder Tausende Viertklässler im Freistaat auf das Übertrittszeugnis, das ihnen am 2. Mai bescheinigen wird, ob es mit einem Schnitt bis 2,33 in Mathe, Deutsch sowie Heimat- und Sachkunde für das Gymnasium reicht - oder mit 2,66 für die Realschule.

Warum Noten als Bewertungsgrundlage problematisch sind

Der grundlegende Fehler aller Übertrittsgutachten liegt für den Bochumer Juristen Cremer darin, dass die verbindliche Empfehlung gar nicht bindend ist, denn Eltern dürfen die Empfehlung des Staates nach unten korrigieren, wenn sie ihre Kinder trotz Gymnasiumsschnitt auf die Real- oder Mittelschule schicken. Dann stelle sich aber die Frage, ob der Freistaat Eltern vorschreiben dürfe, ihr Kind nicht aufs Gymnasium zu schicken. Und das Grundgesetz stehe zu den Eltern, wenn es um das Wohl des einzelnen Kindes geht.

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Verfassungswidrig könnte auch sein, dass in Bayern noch die Noten Grundlage der verbindlichen Übertrittsempfehlung sind. Denn empirische Untersuchungen der vergangenen Jahrzehnte zeigten, dass Noten als Aussage über Eignung von Kindern für weiterführende Schulen unzuverlässig und ungeeignet seien, sagt Cremer. Dabei habe das Bundesverfassungsgericht die Gesetzgeber schon 1972 verpflichtet, "auf Grundlage der Ergebnisse der Bildungsforschung bildungspolitische Entscheidungen zu treffen". Ignoriert der Gesetzgeber, also die Staatsregierung, diese Pflicht, sei das verfassungswidrig.

Der Probeunterricht an Gymnasien und Realschulen, der im Freistaat auch Kindern eine Chance geben soll, die den Schnitt nicht erfüllen, bestätigt für Cremer nur, dass Noten unzuverlässig sind. Denn von 2012 bis 2014 kam etwa die Hälfte der Grundschüler nach den drei Schnuppertagen nachträglich doch noch in die erwünschte Schule, obwohl sie den Schnitt verfehlt hatten. "Die Aussagekraft der Noten wird damit total infrage gestellt", sagt der Jurist.

Inwiefern der Bildungshintergrund der Eltern die Kinder beeinflusst

Außerdem zeige die Forschung, dass Kinder aus bildungsfernen Schichten bei gleicher Leistung sehr oft schlechter benotet würden als Schüler aus Akademikerfamilien. Den Lehrern sei hier keine böse Absicht unterstellt. Für Cremer steckt eher die "Erwartungshaltung" dahinter, dass diese Grundschüler es an Gymnasium oder Realschule eher nicht schaffen oder sehr viel schwerer haben werden, weil deren Eltern nicht mehr helfen könnten. "Also bekommen sie die schlechtere Note und werden damit doppelt benachteiligt", sagt Cremer. Weil sie es ohnehin schwerer hätten und dann trotzdem noch wegen ihrer Herkunft anders behandelt würden.

Das verstößt gegen den Gleichheitsgrundsatz in Artikel 3 Satz 3 des Grundgesetzes und auch gegen Artikel 128 der Bayerischen Verfassung. Danach hat jeder Bürger das Recht auf eine Ausbildung, die seinen Begabungen und Fähigkeiten entspricht.

"Dieses System ist schädlich für die Kinder, wir brauchen wieder einen pädagogisch fundierten Umgang", sagt Martin Güll, der bildungspolitische Sprecher der SPD. Kritik, Anträge und Anfragen zum Übertritt hatten nichts gebracht. Nun hat seine Fraktion genug. "Immer wieder sagte der Minister, das sei ein pädagogisches Verfahren, aber an den Problemen ändert sich einfach nichts", sagt Güll. Noten sagten zu wenig aus, und es könne nicht sein, dass die Übertrittsempfehlungen im Freistaat so unterschiedlich ausfallen.

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Im Jahr 2014 waren in München 61,7 Prozent der Grundschüler für das Gymnasium geeignet, in Starnberg sogar 70,8 Prozent. Dagegen kommen Schweinfurt auf 39,8 und Amberg auf 41 Prozent. Dass Unterfranken oder Oberpfälzer weniger können als Oberbayern, bezweifelt die SPD. Schlimmer noch sei das Stresspensum, dem bereits die Kleinen wegen der Übertrittsnote ausgesetzt seien. Laut einer aktuellen Studie der Uni Würzburg leiden besonders die bayerischen Grundschüler unter Stress und empfinden dies umso dramatischer, je näher das Übertrittszeugnis rückt.

Martin Gülls Vorschlag lautet: Er will, dass auch in Bayern die Eltern über die Schullaufbahn entscheiden. Statt der Noten sollte es aber ein verbindliches Beratungsgespräch geben.

© SZ vom 27.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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