Jugend und Politik:"Nur weil wir keinen deutschen Pass haben, sind wir nicht weniger wert"

Lesezeit: 4 min

"Das sieht kleiner aus als im Fernsehen", sagt die 19-jährige Elza Kurmehaj. Die meisten Teilnehmer besuchten zum ersten Mal das Europäische Parlament in Brüssel. (Foto: Léonardo Kahn)

Bayerische Jugendverbände reisen zum Europäischen Parlament nach Brüssel. Dort werben sie zum Beispiel für mehr politische Teilhabe von jungen Geflüchteten - und stoßen auf Skepsis.

Von Léonardo Kahn, Brüssel

Ein Maibaum mitten in Brüssel. Keine hundert Meter gegenüber vom Europäischen Parlament befindet sich die Außenstelle der Bayerischen Staatskanzlei. Es ist ein prächtiger Gebäudekomplex aus Sandstein mit einem großzügigen Innenhof, Zelt, Bierbänken und einem weiß-blauen Maibaum, der in den belgischen Himmel ragt. Typisch Bayern eben.

In dem schlossartigen Bau sollen die "Interessen des Freistaates bei der Europäischen Union" vertreten werden, steht auf der Internetseite. Doch am Dienstagabend der vergangenen Woche wurde der Ort zum Sprachrohr für junge Bürgerinnen und Bürger, die mit der Lage in ihrem Heimatland unzufrieden sind. Auch die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Katarina Barley (SPD), kam, um sich die Anliegen der bayerischen Jugend anzuhören.

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Für viele ist es das erste Mal in Brüssel, einige sind erst 13 Jahre alt, andere sind vor Kurzem aus der Ukraine geflohen. Rund vierzig Jugendliche wurden aus allen Ecken des Freistaats zusammengetrommelt, um den EU-Abgeordneten ihre Projekte vorzustellen. Die Queere Jugend Niederbayern setzt sich zum Beispiel für den Schutz von Homo- und Transsexuellen ein, der Kreisjugendring Ostallgäu konzipiert demokratiestiftende Spielkisten und der Kreisjugendring Neuburg-Schrobenhausen gestaltet einen Youtube-Kanal, der das Politikinteresse von Jugendlichen wecken soll.

Sie stellen an die Parlamentarier klare Forderungen: schnellere Digitalisierung, besserer Schutz von Minderheiten, mehr politische Teilhabe für Geflüchtete. Vor allem der letzte Punkt stößt unter den Teilnehmern auf breite Zustimmung, die Mitglieder plädieren für ein Europawahlrecht aller Menschen mit Aufenthaltsgenehmigung in einem der 27 EU-Staaten. In den Workshops, die der Bayerische Jugendring (BJR) anbot, war der zum Thema Flucht am besten besucht.

Das liegt auch daran, dass unter den Teilnehmern viele Flüchtlinge und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind. Das Projekt "Druzi", Ukrainisch für Freund, hilft beispielsweise jungen Ukrainern in München, die nach dem russischen Angriffskrieg ihre Heimat verlassen mussten. Sie kommen aus Mariupol oder Melitopol, Städte die von Russland besetzt und zerstört wurden. Manche mussten ansehen, wie ihre Familienmitglieder starben.

Die Ukrainerin Anastasiia Kryvoruchko fordert bei den EU-Parlamentariern eine bessere psychologische Betreuung von Geflüchteten und das Wahlrecht für alle. (Foto: Bruno Maes/BJR)

Im Workshop prangern die Flüchtlinge die mangelnde psychologische Betreuung in Bayern an. "Eigentlich sollte man nur entspannen und versuchen, die Bilder aus dem Kopf zu kriegen, aber so einfach ist das nicht", sagt der 16-jährige Maksym Kuzaiev in nahezu perfektem Deutsch. Er hat die Sprache schnell gelernt, denn er will später "diplomatische Brücken" zwischen Deutschland und der Ukraine bauen.

"Mariupol ist die Stadt, wo ich herkomme, aber München ist meine Heimat", sagt der junge Ukrainer. Das liege daran, dass seine ursprüngliche Heimat zu 90 Prozent von russischen Bomben zerstört wurde. "Es ist anstrengend, sich gleichzeitig auf die Kurse zu konzentrieren, während Freunde und Bekannte zu Hause weiterkämpfen." Er wippt beim Erzählen mit den Knien, knetet seine Hände.

Seiner Freundin Kateryna Pulina, 18, geht es nicht besser. Sie lerne zwar auch Deutsch, bevorzugt aber ein Gespräch auf Englisch. Vor dem Krieg hat sie in Melitopol Sprachwissenschaften studiert, aber in Deutschland kann sie sich nicht auf das Fernstudium konzentrieren, unter anderem weil das Internet aufgrund der beschädigten Infrastruktur ständig abbricht. "Früher wollte ich die Ukraine und Melitopol verlassen, die Stadt war mir zu klein", sie zieht an ihrer E-Zigarette, "jetzt will ich nur noch zurück."

Kateryna Pulina ist Anfang März 2022 nach Bamberg geflohen, Maksym Kuzaiev kam zwei Wochen später nach München. (Foto: Léonardo Kahn)

Das Gefühl, durch das Europäische Parlament zu laufen, erweckt bei beiden Jugendlichen Hoffnung. Ihre Flagge ist seit Kriegsbeginn vor dem Eingang gehisst. "Das zeigt uns, dass wir nicht alleine stehen", sagt Kateryna Pulina. Ihr Freund ergänzt: "Die ukrainische Jugend fühlt sich zu Europa mehr hingezogen als zu Russland." Sie wünschen sich einen schnellstmöglichen EU-Beitritt.

Die meisten Mitglieder des Druzi-Projekts waren auch vor ihrer Flucht in ihrer Heimat politisch engagiert. Seitdem sie in Deutschland leben, sei das eingebrochen. Deshalb sprach sich die Gruppe auch für ein EU-Wahlrecht für alle Flüchtlinge mit Aufenthaltsgenehmigung in der EU aus. So werde nicht mehr über sie entschieden, sondern mit ihnen.

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Der BJR hat schon im März 2021 dazu einen Beschluss verfasst, der sich für das Wahlrecht aller Bürger ausspricht. Als die Forderung am Dienstagabend vor den Parlamentariern formuliert wurde, stieß sie jedoch auf Abwehr. "Ich bin gegen die Entkopplung von Wahlrecht und Staatsbürgerschaft", sagte der Abgeordnete Moritz Körner (FDP), "ich will, dass sie Deutsche werden." Die Ukrainer werden aber in wenigen Jahren wählen können, wenn sie Teil der EU werden, versichert der Liberale.

Barley befürwortet ein Kommunalwahlrecht für alle Einwohner

Die Vize-Präsidentin des EU-Parlaments, Katarina Barley, hat sich zu der konkreten Forderung nicht öffentlich positioniert. Der SZ sagt sie später, dass sie seit 30 Jahren für ein Kommunalwahlrecht aller Einwohner wirbt, sie hat sogar ihre Doktorarbeit dazu geschrieben. Für ein Wahlrecht auf Landes- und Bundesebene spricht sie sich jedoch nicht aus. Und für das Europawahlrecht? "Grundsätzlich bin ich für eine breitere politische Teilnahme, aber wir wissen, wie die Mehrheitsverhältnisse im Parlament sind, daher ist die Forderung aktuell vollkommen unrealistisch", antwortet Barley.

Das frustriert nicht nur die Ukrainer. Das Jugendzentrum Pfarrkirchen in der Nähe von Passau arbeitet ebenfalls mit jungen Geflüchteten zusammen, die in Deutschland nicht wahlberechtigt sind. Abdulaziz Aliko ist 2015 als Elfjähriger von Syrien nach Deutschland geflohen, gerade absolviert er eine Ausbildung zum Frisör. Bis jetzt habe er wenige Berührungspunkte mit der Politik gehabt, deshalb freut er sich über die Reise nach Brüssel.

Seine Freundin Elza Kurmehaj, 19, ist Kosovarin und kann deshalb weder in der EU noch in ihrem Geburtsland Deutschland wählen. Nach der Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes könnten beide theoretisch einen deutschen Pass beantragen, doch das lehnen sie ab. "Nur weil wir keinen deutschen Pass haben, sind wir nicht weniger wert", sagt die ausgebildete Pflegefachhelferin Kurmehaj. Es sei eine Prinzipienfrage, sagen die Jugendlichen aus Pfarrkirchen, auch für ihre Eltern.

Die Kosovarin Elza Kurmehaj und der Syrer Abdulaziz Aliko haben sich vor einem Jahr im Jugendzentrum Pfarrkirchen beim Kickern kennengelernt. (Foto: Léonardo Kahn)

Die Gruppe wird von einem BJR-Mitglied betreut, das selbst 2016 aus Syrien geflohen ist. Osama Kezzo ist seit einem Jahr deutscher Staatsbürger und tritt für die Europawahl im Juni 2024 für die Partei Volt an. "Man muss Menschen selbst für sich sprechen lassen: queere Menschen, junge Menschen oder Menschen mit Fluchterfahrung", so der Betreuer. Sonst würden Entscheidungen ohne sie getroffen. Er habe sich deshalb für eine Einbürgerung entschieden.

Transparenzhinweis: Die Unterkunft- und Reisekosten wurden vom Bayerischen Jugendring übernommen.

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