Bis vor ein paar Jahren schien es hier nicht mehr allzu viel Zukunft zu geben. Von den 40 Internatsplätzen waren nur noch gut zwei Dutzend besetzt, und auch sonst passten Einrichtungen wie das Erzbischöfliche Studienseminar St. Michael in Traunstein kaum mehr in die Zeit. Da halfen auch die paar Monate nichts, die der junge Joseph Ratzinger 1939 hier verbracht und sich dabei laut seinen päpstlichen Erinnerungen oft ein bisschen fehl am Platz gefühlt hatte. Doch dann haben sie in St. Michael die Zukunft in die eigenen Hände genommen, und zwar bald ganz buchstäblich in Form einiger Batzen Ton. Zuletzt wurde noch am Kindergarten herumgedrückt, und feucht und formbar halten werden sie den Ton weiterhin. Doch insgesamt steht das Modell: Das Erzbistum München-Freising will aus dem Seminar den "Campus St. Michael" machen, einen "innovativen christlichen Bildungscampus mit eigenem Profil und überregionaler Ausstrahlung". Dafür soll auch die Gestaltung stehen, mit einem Lehmbau der Architektin Anna Heringer im Zentrum.
Heringer kommt aus der nahe gelegenen Kleinstadt Laufen. Abgesehen vom neuen Volksaltar für den Wormser Dom, den sie vor einem Jahr zusammen mit den Gläubigen aus Lehm gestampft hat, ist das Forum für St. Michael ihr erster größerer Auftrag in Deutschland. International aber hat die 42-Jährige schon viele Projekte verwirklicht. Als Abschlussarbeit baute sie 2005 eine Schule in Rudrapur in Bangladesch - zusammen mit den Menschen im Ort und komplett aus Lehm. 2007 erhielt sie dafür den Aga Kahn Award, den wichtigsten Architekturpreis in der Islamischen Welt. Es folgten unter anderem ein Kindergarten in Simbabwe aus Holz, Lehm, Gras, Textilmatten und Ziegenfellen, wieder mit lokalen Materialien und der Arbeitskraft aus dem Dorf. Oder ein Hostel in China aus Lehmbauten, die von weit geschwungenen Bambusgeflechten umhüllt werden. Heringer erhielt für ihre Bauten viele weitere Preise, nahm an der Biennale in Venedig teil und unterrichtet ihre Lehmbautechnik unter anderem in Zürich, Madrid, München und Harvard.
Dass ihre Architektur von Beginn eng mit der Entwicklungszusammenarbeit und dem Thema Ökologie verbunden ist, macht Anna Heringer zur idealen Partnerin für die Pläne, die das Bistum für St. Michael hat und die sich ebenfalls um Themen wie Nachhaltigkeit und "Schöpfungsspiritualität" drehen. Entstanden sind diese Pläne nicht im Ordinariat in München, sondern direkt in Traunstein. Die Leiterin des Bildungsressorts in der Erzdiözese, Sandra Krump, spricht von "wegweisenden Ideen, die so lange von so vielen entwickelt worden sind". St. Michael solle einer jener Bildungsorte werden, "die Positives ausstrahlen, die Hoffnung geben".
In seiner 90-jährigen Vergangenheit hat das Seminar vielen Buben Bildungschancen eröffnet, die sie sonst nicht gehabt hätten, sagt der heutige Leiter Wolfgang Dinglreiter. Doch wie in so vielen anderen Orten katholischer Kasernierung wurden einst auch dort Zöglinge körperlich gezüchtigt und seelisch beschädigt. Drunten in der Stadt war von St. Michael immer als "Priesterseminar" die Rede, was nie gestimmt hat und sich eher auf die Betreuer und Präfekten bezog. Das Seminar diente zwar der Rekrutierung von Geistlichen, aber nie direkt der Priesterausbildung. Die Buben von St. Michael besuchten stets die Schulen am Ort.
Für Dinglreiter hat das Seminar entscheidend dazu beigetragen, dass in der 22 000-Einwohner-Stadt Traunstein derzeit 12 000 junge Menschen zur Schule gehen. 32 dieser Schüler leben derzeit im Seminar, sie kommen jeweils zu einem runden Drittel direkt aus der Gegend, aus dem Raum München und aus anderen Teilen Bayerns. Der neue Wohntrakt soll 50 Einzelzimmer bekommen. Auch in Zukunft soll das Internat den Buben vorbehalten bleiben. Die Erzdiözese betreibe viele Schulen für Mädchen, sagt Ressortleiterin Krump. Es gebe aber großen Bedarf an Pädagogik, die speziell auf Jungen zugeschnitten ist.
In anderer Hinsicht hat sich St. Michael ohnehin längst geöffnet. 1929 stand das wuchtige Gebäude mit dem kreuzförmige Grundriss noch ganz allein auf der Wartberghöhe, doch längst ist es von einer gediegenen Wohnsiedlung umgeben. Geht es nach Wolfgang Dinglreiter, soll der neue Campus das Zentrum für den ganzen Stadtteil werden. Auch als "Campus" sieht man sich schon seit Jahren, bietet Raum für ein gutes Dutzend Kooperationspartner - für kirchennahe wie das Kreisbildungswerk oder die Caritas, aber auch für andere wie eine lokale Initiative für solidarische Landwirtschaft, das örtliche Reparaturcafé, das "Forum Ökologie" oder einen Gemeinschaftsgarten für Selbstversorger.
Viele dieser Partner haben mitgeredet, mitgeplant und mitgeknetet an ihrer gemeinsamen Vision für den neuen Campus. Der Koch der Cafeteria hat einen Lehmbatzen an den besten Standort für die Küche platziert, und der Kindergarten St. Oswald, der aus dem maroden Gebäude in der Stadt heraufziehen soll, wird als erstes und möglichst schon in zwei Jahren als "Kindergärtnerei" am Rand des Grundstücks entstehen. Im Forum sollen alle unter dicht begrünten Dächern zusammenkommen können. Anna Heringer plant es aus vorgefertigten Bauteilen aus Stampflehm, der erst ein bisschen erodieren wird, bis Strukturen zutage treten, die das Wasser ableiten. Ob vielleicht sogar der Aushub der Baugrube als Baumaterial geeignet ist, müsse sich noch zeigen, sagt Heringer. Soweit es die Bürokratie erlaubt, sollen möglichst viele Menschen an dem mitbauen, was sie sich bisher erknetet haben.