Tradition:Der erste deutsche Massensport

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Im Obergeschoss des Museums in Illerbeuren hängen zahlreiche Schützenscheiben, teils durchlöchert von klein- und großkalibrigen Waffen. (Foto: Rainer Schmidt)

Das neue Haus der Schützenkultur in Illerbeuren zeigt die Geschichte des Schützenwesens in Süddeutschland - vom Mittelalter bis zu den Olympischen Spielen in München. Wer will, darf sogar selbst schießen.

Von Florian Fuchs, Illerbeuren

Gleich am Eingang begrüßen Wilhelm Tell und Kaiser Maximilian I. die Besucher, beide berühmte Vertreter des Schützenwesens. Interessanter aber ist die Pappfigur daneben, Lienhard Flexel. Er war der vielleicht bekannteste Pritschmeister, seit 1550 reiste er von Schützenfest zu Schützenfest. Die Pritschmeister waren so etwas wie Zeremonienmeister, bekannte Männer, die die Besucher unterhielten und für Ordnung sorgten. Wer sich daneben benahm oder schlecht schoss, der bekam etwas mit der Pritsche ab, einem flachen Holzstück. Der Augsburger Lienhard Flexel und seine Kollegen haben viele Festschriften zu Freischießen verfasst, die damals vielerorts veranstaltet wurden - unter anderem in Flexels Heimatstadt im Jahr 1509, zu dem etwa 1000 Wettkämpfer anreisten, sogar aus Paris.

"Für die damalige Zeit waren das gewaltige Dimensionen", sagt Mathilde Wohlgemuth. Für sie als Volkskundlerin sind Schriften wie die von Flexel eine wichtige historische Quelle, um die frühe Geschichte des Schützenwesens nachvollziehen zu können. Im neuen Haus der Schützenkultur, errichtet auf dem Gelände des Bauernhofmuseums in Illerbeuren, hat unter anderen Wohlgemuth die Kulturgeschichte des Schützenwesens in Süddeutschland nachgezeichnet, vom ausgehenden Mittelalter bis zu den Olympischen Spielen 1972 in München. Mehr als 3000 Exponate bis zurück ins 17. Jahrhundert sind ausgestellt, Schützenscheiben und historische Waffen, Pokale und Abzeichen. Mit Hilfe von Lichttechnik dürfen Besucher im Ambiente eines historischen Schützenfestes sogar selbst schießen.

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Wie bedeutend das Schützenwesen ist, zeigt die Ernennung zum immateriellen Kulturerbe im Jahr 2015, die Schützen gründeten auch die ersten Sportvereine in Deutschland. Der Deutsche Schützenbund ist heute der viertgrößte Spitzensportverband in Deutschland, alleine in Bayerisch-Schwaben sind etwa 100 000 Schützen in Vereinen organisiert. Und doch mussten sie lange warten, bis das dreistöckige Museum nun endlich öffnete: Ursprünglich hätte es bereits im Juli 2016 soweit sein sollen, der Bau war fertig. Kurz bevor die ersten Besucher hineindurften, gab es jedoch einen Wasserschaden. Gutachten und Rechtsstreitigkeiten verzögerten die Eröffnung um sieben Jahre.

Das Museum zeigt die Geschichte der süddeutschen Schützen anhand von Exponaten und interaktiv mit Touchscreens, aber auch mit großen Schautafeln und Zeichnungen an den Wänden. Das Augsburger Schützenfest von 1509 etwa ist auf einem großen Gemälde festgehalten. "Es ist ein lustiges, buntes Treiben", sagt Wohlgemuth. Da sitzen die Schützen mit ihren Armbrüsten, hier wird geküsst, dort wird gegessen, ein Betrunkener taumelt in den Wettkampfbereich. Es gibt auch Glücksspiel, Steinewerfen und Wettlaufen. Ein großes Volksfest, eine große Gaudi - mit ernstem Hintergrund. In Reichs- und Residenzstädten schlossen sich die Bürger auf freiwilliger Basis in Schützengesellschaften zusammen, auch als Übung an Kriegswaffen zur Stadtverteidigung.

Pokale sind eine Erfindung aus dem Schützenwesen

Um den Trainingseifer zu fördern, setzten Stadträte früh Preise aus: Naturalien wie Ochsen oder Hammel, aber auch silberne Pokale. "Die heutigen Pokale, die im Sport verliehen werden, gehen auf die Schützen zurück", erläutert Wohlgemuth. Über die Jahrhunderte veränderte sich der Fokus, bis das Schützenwesen nach Ende des Zweiten Weltkriegs zum reinen Sport wurde. Mitte des 19. Jahrhunderts sympathisierten die Schützen mehrheitlich mit freiheitlich-liberalem Gedankengut, sie fühlten sich der nationalstaatlichen Idee verbunden. Ein Boom an Vereinsgründungen war die Folge.

Der Deutsche Schützenbund ist mit Gründung 1861 der älteste Sportverband in Deutschland. Zum 1. Deutschen Schützenfest 1862 in Frankfurt reisten sogar Schützen aus den USA an. "Es war ein Massensport", sagt Wohlgemuth. Wobei es lange - von Ausnahmen abgesehen, auf die die Ausstellung eingeht - , ein reiner Männersport war. Erst von 1950 an nahmen Frauen immer öfter an Wettkämpfen teil, heute sind Schützinnen und Schützen etwa zu gleichen Teilen in Vereinen vertreten.

Im Gegensatz zu früheren Zeiten sind Waffen kein Luxusgut mehr, lange konnten sich so etwas nur betuchte Bürger leisten. Die Geschichte der Waffen zeigt die Ausstellung im Untergeschoss. Einige Vorderlader sind bereits zu sehen, die Vitrinen mit den moderneren Hinterladern sind noch leer. Sicherheitsbestimmungen verhindern, dass das Museum Originale in die Schaukästen stellt, die Mitarbeiter bemühen sich zeitnah um realistisch wirkende 3D-Drucke. Da sollen dann auch sogenannte Zimmerstutzen dabei sein, die um 1870 herum aufkamen und wohl in München entwickelt wurden. Das leichte Kleinstkalibergewehr konnten die Schützen auch im Innern verwenden. "Das veränderte einiges", sagt Wohlgemuth und lacht. "Die Leute konnten jetzt im Wirtshaus schießen, teilweise aus der Durchreiche heraus."

Mit Hilfe von Lichttechnik dürfen Besucher auch selbst schießen. (Foto: Rainer Schmidt)

Im Obergeschoss steht die Schießanlage, an der sich Besucher versuchen dürfen. Auch mehr als 2000 Abzeichen sind hier ausgestellt, die im Schützensport für vieles verliehen werden, nicht nur bei Wettkämpfen, sondern etwa auch für Verdienste um den Verein. Für Wohlgemuth aber sind die Schützenscheiben das Highlight der Ausstellung, die hier an den Wänden und über die Decke verteilt hängen. Die Schützenscheiben stammen aus dem 19. und 20. Jahrhundert, haben große und kleine Einschusslöcher. Sie sind nicht etwa weiß mit schwarzem Punkt in der Mitte, sondern bunt bemalt, mit Motiven aus ihrer Zeit.

Bemalte Schützenscheiben sind eine Besonderheit, die sich in Süddeutschland entwickelte. Ähnlich wie die Festschriften des Pritschmeisters Lienhard Flexel sind sie für Wissenschaftler eine bedeutende historische Quelle. Wohlgemuth zeigt zum Beispiel gerne eine Memminger Scheibe, die die Hungersnot im Jahr 1817 abbildet. Nach einem Vulkanausbruch in Indonesien fiel selbst in Teilen Europas die Ernte aus, der Getreidepreis schoss in die Höhe. Auf der Scheibe sind zwei Händler zu sehen, umgeben von ihren Getreidesäcken. Sie philosophieren darüber, wie gut sie verdient haben. "Xaverl, wenns immer so wär", sagt einer der beiden. Die Scheibe ist ganz gut durchlöchert worden von den Schützen.

Aktuelle Informationen zu Öffnungszeiten und Eintrittspreisen finden Sie hier: https://www.bauernhofmuseum.de/besuch/allgemeines/ihr-besuch-oeffnungszeiten-preise

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