Entscheidung über Volksbegehren:Keine Zeit, kein Frühstück: Was der Pflegenotstand bedeutet

Pflegekräfte Mangel: Krankenschwester in Münchner Kinderklinik

In vielen Kliniken fehlen Pflegekräfte. Die Aufnahme entstand im Haunerschen Kinderspital in München.

(Foto: Catherina Hess)

In Bayerns Kliniken fehlen viele Pflegekräfte. Vier Betroffene berichten davon, was das im Alltag bedeutet.

Protokolle von Dietrich Mittler und Lisa Schnell

An diesem Dienstag verkündet der Bayerische Verfassungsgerichtshof ein wichtiges Urteil: Ist das Volksbegehren für eine bessere Pflege zulässig oder nicht? Mehr als 100 000 Bürger haben es unterschrieben. Sie wollen mit dem Gesetzentwurf die Situation verbessern, dass in Bayern - ihren Berechnungen nach - etwa 12 000 Pflegekräfte fehlen.

Dass sich die Kliniken schwer tun, genügend Pflegerinnen und Pfleger zu finden, bestreitet kaum einer. Aber wie groß ist der Mangel wirklich und was bedeutet er im Alltag? Vier ganz unterschiedlich Betroffene erzählen:

Christina Chen, 31, Pflegerin

Entscheidung über Volksbegehren: Christina Chen ist tätig in einer städtischen Klinik.

Christina Chen ist tätig in einer städtischen Klinik.

(Foto: privat)

Ich bin seit 2009 Pflegerin, gerade in einem städtischen Krankenhaus in Oberbayern. Es wurde immer mehr Arbeit: mehr Patienten, weniger Zeit. Teilweise haben wir in einem Bett in einer Woche drei Patienten. Alle Untersuchungen pressen wir in zwei Tage. Aber klar: Es ist ein rentables Geschäft. Für uns ist es oft belastend.

Letzten Montag hatte ich so einen Dienst. Wir waren zwei Schwestern im Spätdienst. Mehrere Patienten hatten erhöhten Blutdruck, in einem Fall bestand der Verdacht auf eine Sepsis - ein Krankheitsbild, das als Notfall gewertet werden kann. Gleichzeitig stürzte ein anderer Patient, der eine Chemotherapie am Arm hatte. Es ist schwierig, wenn einem alles in den Ohren schreit: die Alarmglocke, der Arzt, der Patient mit dem Blutdruck, der Mann, der am Boden liegt. In so einem Fall die richtigen Prioritäten zu setzen, erfordert sehr viel Professionalität. Wir haben uns um den Mann mit der Chemo gekümmert, die anderen waren dadurch gesundheitlich gefährdet. Es ist niemand zu Schaden gekommen, aber es hätte sein können.

In einem Fall wie diesem schreibe ich eine Überlastungsanzeige, die einzige Möglichkeit, mich rechtlich abzusichern. Es sind nur vereinzelte Dienste, in denen so etwas passiert, aber es tut mir jedes Mal weh. Alltag dagegen ist, dass wir für Dinge keine Zeit haben, die zwar nicht lebensnotwendig sind, aber eigentlich zu einer guten Pflege gehören. Patienten, die im Sterben liegen etwa, kann ich meistens nicht die Hand halten, weil ich keine Zeit habe. Oft mache ich keine Pause. Wenn es schlimm ist, esse und trinke ich nichts, wenn es ganz schlimm ist, gehe ich nicht auf die Toilette. Schon klar, dass viele Schwestern sagen: nein, mach ich nicht mehr. Viele ärgern sich dann, weil sie sich fragen: Warum muss ich in die Teilzeit gehen und weniger verdienen, später weniger Rente bekommen, wenn ich gar nichts für das Problem kann?

Karin Zimmermann, 53, Patientin

Entscheidung über Volksbegehren: Karin Zimmermann ist Diabetikerin.

Karin Zimmermann ist Diabetikerin.

(Foto: Erika Weinbrecht)

Ich bin sehbehindert und Diabetikerin und hatte einen schweren Unfall. Ich war stationär in verschiedenen Kliniken und bin aktuell Ambulanz-Patientin. Da erlebt man so einiges. Am Schlimmsten ist es als frisch operierte Patientin auf Station. Aufgrund der Sehbehinderung kann ich die klein gedruckten Essensbestellungen nicht ausfüllen. Das Personal hat dafür keine Zeit. Automatisch wird "Standardessen" bestellt, obwohl ich Diabetiker-Kost bräuchte. Wegen der frisch operierten Hand konnte ich kein Messer halten. Die Frau, die mir das Frühstück hinstellte, war von einer externen Firma - outgesourct zur Kostenersparnis. Bedeutet: Semmel aufschneiden? Fehlanzeige. Gleichzeitig war Schichtwechsel, so blieb nur an der Semmel rumknabbern, das war's dann mit Frühstück!

Braucht man Schmerzmittel oder muss auf die Toilette, heißt es von der total gestressten Pflegeperson: "Jetzt nicht - später. " So trauen sich gerade ältere Patienten gar nicht mehr zu klingeln, so verschüchtert sind die. Aber die allerärmsten sind die Demenzkranken. In einem Krankenhaus gehen diese Menschen komplett unter. Beispiel: Röntgen. Die werden vom Bringdienst in ihren Betten im dunklen Gang im Untergeschoss abgestellt. Da liegen sie mutterseelenallein, bis die MTA sie zur Untersuchung holt. Für Demente ist das blanker Horror. Eine Frau rief immer: "Hilfe, die Russen kommen!" Sie dachte, sie wäre im Luftschutzbunker und war total in Panik. Aber vom Radiologie-Team hatte keiner Zeit für ein beruhigendes Wort! Das Krankenhauspersonal ist überfordert. Alle machen ihre Arbeit am absoluten Limit. Wenn man fit als Patient light kommt, geht es noch. Aber ist man chronisch krank oder dement, muss man heilfroh sein, wenn man das ganze Pflegechaos bis zur Entlassung unbeschadet überlebt.

Renate Demharter, 59, Oberärztin

Entscheidung über Volksbegehren: Renate Demharter arbeitet in Augsburg.

Renate Demharter arbeitet in Augsburg.

(Foto: Ulrich Wirth)

Bei uns betreut eine Intensiv-Pflegekraft manchmal drei bis vier Patienten. Eigentlich sollten es zwei sein. Oft sagen wir dem Rettungsdienst, wir sind voll, dabei hätten wir die Betten, nur nicht genügend Pfleger. Einmal hatte ich für einen Patienten keinen Platz mehr auf Intensiv. Er hätte intensiv therapiert gehört und atemunterstützt, lag dann aber auf einer Station, wo das nicht ging. Als ich zu ihm kam, war er bewusstlos und ich musste intubieren, ihm also einen Schlauch in die Luftröhre schieben. Er hatte damit ein höheres Risiko von Lungenentzündungen. Das ist schon eine heftigere Maßnahme, als wenn er einfach eine Beatmungsmaske bekommen hätte. Aber das ist auf dieser Station eben nicht möglich.

Wenn ein Intensivfall reinkommt, muss oft geschaut werden, ob es einem Patienten so gut geht, dass man ihn auf eine Normalstation verlegen kann. Das führt dazu, dass Patienten die Intensivstation zu früh verlassen und sich ihr Zustand wieder verschlechtert. Manchmal müssen wir Pfleger einsetzen, die für die Intensivstation nicht ausgebildet sind. "Das schaffst du schon", heißt es dann. Ihnen so die Verantwortung aufzuhalsen, da ist uns Ärzten nicht wohl dabei. Auch die Hygiene leidet, wenn das Personal überfordert ist. Da wird dann häufig nicht untersucht, ob ein Patient einen multiresistenten Krankenhauskeim haben könnte. Oft fehlt die Zeit, die Akten genau zu studieren. Dabei haben wir eine Klinikleitung, die mehr Geld für Pflege ausgeben will. In einer Vereinbarung mit dem Personalrat wurden Schlüssel festgeschrieben, die eigentlich ausreichen. Nur: Wir finden nicht so viele Pflegekräfte. Ich bin aber sicher, dass sich das ändert, wenn sich die Arbeitsbedingungen verbessern. Viele, die Teilzeit arbeiten, weil sie es anders nicht aushalten, werden zurückkommen. Das haben wir schon gespürt, nachdem wir die Vereinbarung unterschrieben hatten. Da kamen 80 Bewerbungen, dabei hieß es davor: Der Markt ist leer.

Thomas Lippmann, 42, Geschäftsführer

Entscheidung über Volksbegehren: Thomas Lippmann leitet zwei Kliniken.

Thomas Lippmann leitet zwei Kliniken.

(Foto: Emanuel Gronau)

Natürlich merken auch wir, dass der Markt an Pflegekräften leergefegt ist. Und da sind innovative Ideen gefragt. So fahren wir zum Beispiel eine Social-Media-Strategie. Warum? Die jungen Leute sind auf Instagram und Facebook unterwegs, und dort können wir sie abholen. Eine professionelle Firma hat uns die Accounts aufgestellt, aber die werden jetzt von eigenen Mitarbeitern gefüllt. Das war mir wichtig. Ich wollte nicht, dass die - wie bei einigen Firmen üblich - von Ghostwritern bedient werden. Das ist erfolgreich, weil wir direkt und authentisch sind. Die Bewerberinnen und Interessenten bekommen rasch eine Antwort.

Als ich vor fünf Jahren im Landkreis Weilheim-Schongau die Geschäftsführung der Krankenhaus GmbH übernahm, da stellten viele Beraterfirmen Bayerns Krankenhäuser - wortwörtlich - diese Hausaufgabe: Schmeißt 20, 30 Prozent eurer Pflegekräfte raus, dann habt ihr eure Kosten im Griff. Wenn ich das gemacht hätte, dann hätten auch wir heute in unseren beiden Häusern in Weilheim und in Schongau einen Pflegenotstand. Ich bin glücklich, dass wir diesen Fehler nicht gemacht haben. Wir haben keine Stationsschließungen, keine Probleme mit den von Berlin vorgegebenen Personaluntergrenzen.

Damit dies so bleibt, haben wir auch Krankenschwestern aus Serbien im Team. Diesen haben wir ein Gesamtpaket angeboten. Das heißt: Wir kümmern uns nicht nur darum, dass die Pflegekräfte rüberkommen, sondern wir kümmern uns auch um Wohnungen für sie, um Jobs für die Partner. Natürlich gehe ich auf die Ausbildungs- und Jobmessen im Landkreis - inzwischen ist immer unser OP-Roboter mit dabei. Die Botschaft ist: Schaut mal, was wir als kleines Krankenhaus zu bieten haben - auch von der Technik her. Und ganz wichtig: die Unternehmenskultur. So haben wir zum Beispiel regelmäßig einen gemeinsamen Kinoabend mit Popcorn und Softdrinks.

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