Unter Bayern:"Miassts hoam zum Kaibeziang, ha?"

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Bevor Kälber erste Schritte machen können, müssen sie sich oftmals einer doch recht heftig wirkenden Prozedur unterziehen lassen. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

In städtischen Kreisen gelten sie als Sinnbild für die Mysterien des Landlebens. Auf dem Land selbst lenken sie den Lauf des Lebens schicksalhaft: Kälberstricke.

Glosse von Hans Kratzer

Vor einigen Jahrzehnten hatte sich in einem Grenzlanddorf die Lisi erhängt. Der Bäuerin war wohl alles zu viel geworden. "D'Lisi hod sich ghengt!", raunten sich alle Dörfler betroffen zu, aber Augenzeugen der Tragödie wussten auch, dass die Lisi noch am Leben war. Denn der abgewetzte Kälberstrick, den sie am Silorand befestigt hatte, riss bei ihrem Unterfangen ab. Die Lisi hatte zwar noch den Strick um den Hals, aber sie kam fast unversehrt am Bretterboden zum Stehen. Die Feuerwehr befreite sie aus ihrer Notlage und schenkte ihr damit ein noch langes Weiterleben.

Kälberstricken wird zwar meistens wenig Beachtung geschenkt, aber trotzdem ist ihnen zu eigen, dass sie den Lauf des Lebens schicksalhaft lenken. In städtischen Kreisen werden sie generell als ein Sinnbild für die hellen wie auch für die dunklen Mysterien des Landlebens betrachtet. Im März 2018 gastierte der Dorfverein TSV Buchbach im Grünwalder Stadion beim TSV 1860 München. Dessen Fans provozierten die Gäste aus dem Landkreis Mühldorf wiederholt mit der Frage: "Miassts hoam zum Kaibeziang, ha?" Wer einst als Fußballer in einer Amateurliga gekickt hat, der erlebte bei so mancher Begegnung, dass der eine oder andere Ballkünstler plötzlich vom Spielfeld rannte, weil man ihm zugerufen hatte, dass daheim eine Kuh kalbte. Kälberziehen, Kaibeziang, das war jetzt wichtiger als der schönste Torschuss.

Wenn das Kalb, also das Kaibe, vor der Geburt falsch liegt, dann werden dessen schleimtriefende Beine oft an einen Kälberstrick gebunden, um das Tier dann beim Pressen der Kuh händisch ans Licht der Welt zu ziehen.

Erfreulich ist, dass ein Kaibe genderneutral auf die Welt kommt - es kann ein Stierkaibe sein oder ein Kuhkaibe. Wichtig ist nur, dass es säuft. Legendär ist Ludwig Thomas Stück "Die Brautschau", in dem der Schmuser (Handelsvermittler) Palser den Rivalen Elfinger bezichtigt, er habe ihm eine Kuh mit einem fremden Kalb verkauft. "Hot's Kaibi gsuffa?", fragt der Palser penetrant, um auf diese Weise auszudrücken, dass der Konkurrent ein Betrüger und ein Lump sei.

Vor Jahren fiel beim Festabend eines Sportvereins im Passauer Land ein treffliches Licht auf das Phänomen Kälberziehen. Nachdem der damalige Landrat Franz Meyer, nach allen Seiten hin eifrig nickend und grüßend, endlich als allerletzter Gast das Festzelt betreten hatte, reagierte die Kabarettistin Martina Schwarzmann auf der Bühne durchaus milde und verständnisvoll: "Aufm Land, da muaß ma einfach oft Kaibeziang", sagte sie.

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