Am 25. August berichtete die Süddeutsche Zeitung über den Verdacht, Hubert Aiwanger habe als Schüler ein rechtsextremistisches Flugblatt verfasst und sei für seine rechtsextreme Gesinnung bekannt gewesen. Grundlage der Berichterstattung war die Aussage einer Vielzahl von Personen, darunter mehrere ehemalige Mitschüler. Aiwanger bestritt diese Vorwürfe zunächst pauschal und präsentierte sodann seinen Bruder Helmut als Verfasser des Flugblatts. Danach meldeten sich bei der SZ und anderen Medien weitere Personen, die ebenfalls mitteilten, dass der heutige Chef der Freien Wähler und bayerische Wirtschaftsminister während seiner Gymnasialzeit mit rechtsextremem Gedankengut aufgefallen sei.
In einer Reihe von Interviews hat Aiwanger zuletzt wiederholt zum Teil unwahre Behauptungen über die Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung aufgestellt. Einer der mehrmals wiederholten Vorwürfe lautet, die SZ habe offenbar sehr lange eine Kampagne gegen ihn geplant, um ihn "abzuschießen". Höchstwahrscheinlich sei dies zusammen mit "politischen Mitwissern und Mitwirkenden" erfolgt. Die SZ habe schon seit 2008 von dem Flugblatt gewusst und mit der Veröffentlichung der Vorwürfe bis zum Beginn der Briefwahl gewartet. Das ist falsch.
Von der Existenz des Flugblatts hat die SZ vielmehr erstmals am 2. August 2023 erfahren, als sich ein ehemaliger Lehrer über zwei vermittelnde Personen an die Bayernredaktion wandte. Daraufhin nahm die Redaktion Kontakt zu ihm auf. Wegen der Schwere der Vorwürfe und der möglichen Folgen einer Veröffentlichung startete die Redaktion eine umfangreiche Recherche. Unter anderem befragte sie in den folgenden Wochen ehemalige Mitschüler und Lehrer von Hubert Aiwanger am Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg. Mehrere Personen, die mit dem Fall im Schuljahr 1987/88 dienstlich befasst waren, teilten der SZ mit, dass bei Hubert Aiwanger ein oder mehrere antisemitische Flugblätter in der Tasche gefunden worden seien. Er habe als Verfasser des Flugblatts überführt gegolten und sei vom Disziplinarausschuss deswegen zu einer Strafe verurteilt worden.
Die Berichterstattung stützt sich keineswegs nur auf einen einzelnen Informanten, sondern auf die Aussagen einer Reihe von Informanten, mit denen die SZ ausführlich gesprochen hat und die ihr namentlich bekannt sind. Der SZ liegen eidesstattliche Versicherungen von Informanten vor. In der Berichterstattung wurden auch Aussagen von Personen aus der gemeinsamen Schulzeit angeführt, die Aiwanger entlasten. Weil etliche Personen, mit denen die SZ gesprochen hat, Konsequenzen befürchteten - entweder dienstrechtlicher oder gesellschaftlicher Art -, wurden ihre Namen nicht veröffentlicht. Dieser Schutz von Informanten ist für die Freiheit der Presse unerlässlich und aus Artikel 5 des Grundgesetzes abgeleitet.
Außer der Süddeutschen Zeitung haben auch andere Medien, darunter der Spiegel, zum Flugblatt recherchiert. Dass andere Medien von einer Veröffentlichung der Vorwürfe bewusst abgesehen hätten, weil sie hierfür nicht genügend Anhaltspunkte sahen, liegt fern; die SZ hatte ihre Recherche nur früher abgeschlossen. Das bestätigte auch Anna Clauß, Bayern-Korrespondentin und Leiterin des Ressorts "Meinung und Debatte" beim Spiegel im Deutschlandfunk: "Kurz gesagt, wir waren einfach mit der Recherche noch nicht so weit. Die SZ war schneller, die SZ hatte die entsprechenden Belege."
Einer der Informanten glaubte sich zu erinnern, dass bereits 2008 ein Journalist der SZ wegen Aiwanger bei ihm angerufen habe. Die Bayernredaktion ging dem Hinweis schon aus eigenem Interesse nach. Ein ehemaliger Kollege, der dafür infrage kam, konnte sich aber an kein Telefonat mit dem Informanten erinnern. Weder gab es 2008 eine Berichterstattung noch war die SZ - wie Aiwanger fälschlicherweise mutmaßt - seit damals über das Flugblatt informiert. Der Termin der Veröffentlichung in der SZ am 26. August hat mit dem Beginn der Briefwahl in Bayern nichts zu tun. Der erste Informant beschloss nach Aiwangers umstrittenem Auftritt in Erding am 10. Juni, sich mit dem Flugblatt an die Öffentlichkeit zu wenden. Die SZ veröffentlichte die Recherche zu dem Zeitpunkt, als die Erkenntnisse zu den Vorwürfen so weit recherchiert waren, dass sie publiziert werden konnten. Die Relevanz und das öffentliche Interesse waren angesichts der Position von Hubert Aiwanger und der Schwere der Vorwürfe ebenfalls gegeben.
Die "Süddeutsche Zeitung" konfrontierte Aiwanger dreimal schriftlich mit Fragen
In seinen Interviews wirft Aiwanger der SZ vor, sie habe gegen die Regeln der journalistischen Verdachtsberichterstattung und Sorgfaltspflicht verstoßen. So sei er, was angeblich "nicht erlaubt" sei, immer wieder mit neuen Vorwürfen konfrontiert worden, die ihm "jeweils schleierhaft" vorgekommen seien. Er habe gleich gesagt, dass er nicht der Urheber des Flugblatts gewesen sei. Das habe die SZ aber nicht interessiert. Auch durch ein anderes Verhalten, so Aiwanger, hätte er eine Veröffentlichung der SZ nicht ernsthaft verhindern können. Das ist falsch.
Die Süddeutsche Zeitung konfrontierte Aiwanger im Zuge der Recherchen vor der Veröffentlichung dreimal schriftlich mit Fragen. Vor der Veröffentlichung machte sie ihm überdies Angebote zu persönlichen Gesprächen über den Sachverhalt. Im Rahmen der Sorgfaltspflicht konfrontierte die SZ Aiwanger auch in den Tagen nach der ersten Veröffentlichung mehrmals mit neuen Vorwürfen, was nicht nur erlaubt, sondern auch geboten und erforderlich ist, und ersuchte ihn um Stellungnahmen, die er schließlich pauschal ablehnte.
Bayern:Wie die SZ in Sachen Flugblatt vorgegangen ist
Gegen Wirtschaftsminister Aiwanger stehen schwere Vorwürfe im Raum. Warum berichtet die "Süddeutsche Zeitung" darüber? Wie hat sie recherchiert? Und warum wird dies alles vor der Landtagswahl öffentlich? Antworten auf die wichtigsten Leser-Fragen.
Auf die erste Anfrage am 17. August reagierte Aiwanger nur allgemein. Er ließ von einem Sprecher pauschal alles zurückweisen und mit juristischen Konsequenzen drohen. In einer zweiten Mail am 20. August fragte die SZ nach Details: Ob und weswegen sich Aiwanger vor dem Disziplinarausschuss verantworten musste, ob er das Flugblatt verfasst und ausgelegt habe, ob es in seinem Schulranzen gefunden wurde. Insgesamt acht Fragen, auf die er detailliert hätte antworten können. Stattdessen ließ er einen Sprecher schreiben, "dass Hubert Aiwanger so etwas nicht produziert hat, die Behauptungen zu seiner Schulzeit vor über 35 Jahren zurückweist und gegen diese Schmutzkampagne im Falle einer Veröffentlichung juristische Schritte inklusive Schadenersatzforderungen ankündigt".
Einen Tag vor der Veröffentlichung, am 24. August, schickte die SZ eine dritte Anfrage an Aiwanger. Darin wurde er mit den Aussagen von Mitschülern konfrontiert, dass er Hitler-Reden einstudiert und damit geprahlt haben soll, Hitlers "Mein Kampf" gelesen zu haben. Außerdem wiederholte die SZ das Angebot zu einem persönlichen oder telefonischen Gespräch. Darauf gab es keine Antwort. Vom Bruder als Verfasser war keine Rede. Dieser meldete sich am Tag nach der Veröffentlichung als angeblicher Verfasser in der Passauer Neuen Presse zu Wort. An diesem Tag räumte Hubert Aiwanger ein, dass das Flugblatt seinerzeit in seiner Tasche gefunden und er deswegen bestraft worden ist. Ob er es auch verteilt habe, daran könne er sich nicht erinnern.
Hätte Aiwanger bereits vor der Veröffentlichung mit der SZ über die Vorwürfe gegen ihn gesprochen, hätte dies selbstverständlich Auswirkungen auf die Berichterstattung gehabt. Seine Erklärungen und Antworten wären in die Berichterstattung eingeflossen.
Aiwanger behauptet, dass "das Vertrauen in den Schutzraum Schule durch das offenbar gesetzwidrige Verhalten des Lehrers schwer erschüttert" worden sei. Viele Eltern befürchteten jetzt, dass etwaige Fehltritte auch ihrer Kinder aus Schulzeiten eventuell Jahre später in den Medien landen könnten. Auch dieser an die SZ gerichtete Vorwurf ist fehlgeleitet. Die Süddeutsche Zeitung hat vor ihrer Veröffentlichung des Flugblatts den Schutz der Persönlichkeitsrechte Aiwangers gegen das Informationsinteresse der Öffentlichkeit abgewogen. Die SZ stützt sich auf ständige höchstrichterliche Rechtsprechung, wonach bei Personen, die eine hervorgehobene öffentliche Position einnehmen, auch bis weit in die Vergangenheit hinein ein berechtigtes öffentliches Interesse an ihrem persönlichen oder politischen Werdegang anzuerkennen sei. Das ist bei Hubert Aiwanger der Fall.
Wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der stellvertretende Ministerpräsident Bayerns in seiner Jugend eine rechtsextreme Gesinnung vertreten haben sollte, darf das auch öffentlich gemacht und diskutiert werden. Aiwanger hatte von der SZ wiederholt die Möglichkeit erhalten, sich zu den Vorwürfen zu äußern und sie zu entkräften. Er hat sie ungenutzt gelassen.