Wandel im Parteiensystem:Herbst der Großparteien

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Während die Grünen einen Höhenflug erleben, stecken CDU und SPD in der Krise und diskutieren über ihre Werte. Die Schwäche der Volksparteien wird anhalten: Aus dem alten Parteienstaat wird eine Parteiendemokratie.

Heribert Prantl

Wertedebatten sind Debatten, die in der Politik vor allem dann geführt werden, wenn die Umfragewerte schlecht sind. Deshalb ist derzeit in der SPD und in der Union so viel von Werten die Rede. Das Reden darüber soll zu besseren Umfragewerten führen. Zu diesem Zweck werden Wertekongresse und Parteitage abgehalten; dabei soll es zwar gehaltvoll und spannend, aber doch harmonisch zugehen.

Die Kleinen werden groß, die Großen klein: Der Parteienstaat in Deutschland ist am Ende, eine Parteiendemokratie ist am Entstehen. (Foto: dpa)

Der ansonsten so forsche SPD-Parteichef Sigmar Gabriel hat es daher vermieden, vor oder auf dem Parteitag den sozialdemokratischen Salonrassisten Thilo Sarrazin in einer Diskussion zu stellen; lieber betreibt er ein Parteiausschlussverfahren und veröffentlicht in einer Wochenzeitung einen Aufsatz mit klugen Thesen gegen den Rassismus. Er hätte sie aber besser seinem Genossen in offener rhetorischer Feldschlacht um die Ohren hauen sollen. Man kann nicht Sarrazin ausschließen, aber seine Positionen einschließen.

Wenn auf einem Parteitag keine neuen Parteichefs gewählt werden und deshalb Zeit zum Reden über Werte ist, nennt man ihn Arbeitsparteitag - weil man sich dann an den Werten abarbeitet. Die SPD war zuletzt kaum dazu gekommen, weil ihre Arbeitskraft davon aufgezehrt wurde, alle naslang einen neuen Parteichef zu suchen und zu wählen.

Der vor zehn Monaten in Dresden gewählte SPD-Chef Sigmar Gabriel hat seitdem versucht, die Partei nach einer langen Zeit der Dürre wieder zu gießen, zu düngen und von dürrem Geäst zu befreien, wie man das auch bei einem alten Baum macht, auf dass er wieder Früchte trage. Große Erfolge hat er noch nicht erzielt. Immerhin: Die Partei ist nicht noch dürrer geworden. Der Parteitag in Berlin sollte nun eine Demonstration der Erholung sein. Das gelang ganz ordentlich.

Die Zeit der Volksparteien ist schlicht zu Ende

Die gute Stimmung rührte vor allem daher, dass das öffentliche Ansehen der Regierungsparteien so schlecht ist. Parteichef Gabriel versucht, die alte SPD-Regierungspolitik zu Schröders und Münteferings Zeiten mit seiner neuen Oppositionslinie in mäandrierende Harmonie zu bringen - und je mehr das gelingt, so glaubt er, wird die SPD wieder zu alter Größe wachsen.

Agenda 2010, Hartz IV und die Rente mit 67 sollen sozial geölt werden; aber richtig empören über das neue schwarz-gelbe "Hartz V" darf er sich nicht; die SPD hat schließlich die Hartz-Gesetze erfunden.

Es ist gewiss nicht falsch, den historischen Einbruch der SPD bei den letzten Bundestagswahlen mit den Belastungen zu erklären, welche die Partei in elfjähriger Regierungszeit ihrer Kernklientel zugemutet hat; aber diese Erklärung ist nicht ausreichend, so wie es auch nicht ausreichend ist, das anhaltende Schwächeln der Union mit der Beliebigkeit von Angela Merkel oder einem angeblich vernachlässigten Konservativismus zu erklären. Es ist schlicht so, dass die Zeit der ganz großen Volksparteien zu Ende ist.

Deutschland erlebt den Herbst der alten Großparteien. Es wird natürlich wieder ein Frühjahr für sie geben; aber sie werden nicht mehr so austreiben wie früher. Die CDU könnte einen Adenauer und die SPD einen Brandt an der Spitze haben - 40 Prozent auf Bundesebene werden sie nicht mehr erreichen. Mit der gewachsenen Vielfalt der Parteienlandschaft geht ein Prozess der Verkleinerung der großen Parteien und der Vergrößerung der kleinen Parteien einher.

Das ist kein temporäres Phänomen. Die geballte politische Machtkonzentration in zwei sehr großen Parteien widerstrebt dem neu erwachten politischen Bewusstsein des Bürgertums, wie es sich allenthalben in Volksbegehren (Schule, Rauchverbot), im Widerstand gegen Großprojekte ("Stuttgart 21") oder auch in der schier entfesselten Zustimmung zu Sarrazin äußert. Der Boom der Grünen ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass sie nicht als klassische Machtpartei gelten - ohne dass sie gleich für so machtfern und machtuntauglich gehalten werden wie die Linkspartei.

Aus einem Parteienstaat wird eine Parteiendemokratie

Die beiden einst sehr großen Volksparteien haben den Parteienstaat nach dem Modell geschaffen, das der Staatsrechtler Gerhard Leibholz gelehrt und in seiner zwanzigjährigen Zeit als Verfassungsrichter (1951 bis 1971) rechtlich abgesichert hat: Danach kann der Volkswille, von dem in Wahlen und Abstimmungen die Staatsgewalt ausgeht, "in der Wirklichkeit des modernen Parteienstaats nur (!) in den Parteien als politische Handlungseinheiten erscheinen".

Das hat dazu geführt, dass der Unterschied zwischen Staat und Partei in der Geschichte der Bundesrepublik immer mehr verwischte - bis hin zur Verlagerung staatlicher Entscheidungen in Partei- oder Koalitionsgremien und zum Zugriff der großen Parteien auf den Staat als Ämterordnung.

Der Unwille der Wähler dagegen ist groß; und die Verkleinerung der einst großen Volksparteien ist ihr Mittel, sich dagegen zu wehren. Und so erlebt Deutschland derzeit etwas Neues: die Rückbildung des bisherigen Parteienstaats in eine lebendigere Parteiendemokratie. Die Schrumpfung von SPD, CDU und CSU ist ein Teil dieser Verlebendigung; dagegen helfen kein Parteitag und keine Wertedebatte.

Die Zahl der Volksparteien wächst. Sie werden keine Großparteien sein. Und bürgerlich sind sie alle.

© SZ vom 27.09.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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