Union:Einmal Abgrund und zurück

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Oft führt der Weg zur Bühne durch die Reihen der Zuschauer. Manche wollen gemeinsame Selfies. (Foto: Sean Gallup)

Ihre Flüchtlingspolitik hat sie fast die Kanzlerschaft gekostet. Doch gegen alle Erwartungen hat Merkel dann gelassen einen anstrengenden Wahlkampf geführt.

Von Nico Fried

Gleich am Anfang redet Angela Merkel über das Ende. Es ist der Mittwoch elf Tage vor der Bundestagswahl. Die Kanzlerin strebt nach zwölf Jahren im Amt eine Mehrheit für weitere vier Jahre an. Nun empfängt sie zu einem Gespräch im Kanzleramt, aber sie sagt gleich, wann das alles vorbei sein wird. Weil der Wahlkampf sie an diesem Tag noch nach Niedersachsen führt. Der Hubschrauber steht bereit. Deshalb muss Merkel pünktlich Schluss machen. Mit dem Gespräch.

Draußen weht starker Wind, der Flug gen Westen könnte turbulent werden. Wenn sie viel mit dem Hubschrauber unterwegs ist, schmerzen der Kanzlerin manchmal die Ohren. An diesem Tag meint man sehen zu können, dass ihr das zu erwartende Geschaukel schon vorab leichte Blässe ins Gesicht malt. Der Wahlkampf ist intensiv geworden, anstrengend. Nicht nur meteorologisch, auch politisch. So wie sie es erwartet hat.

Es werde "Anfechtungen von vielen Seiten" geben, sagte Merkel, als sie der CDU im November 2016 ihre erneute Kandidatur ankündigte. Sie meinte natürlich die politischen Gegner zur Linken und zur Rechten. Und ein wenig fürchtete sie wohl auch die politischen Freunde, die von der CSU vor allem.

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Es gab Phasen, in denen es in den Umfragen gar nicht gut aussah für die Amtsinhaberin, zum Beispiel nach der Nominierung ihres Herausforderers Martin Schulz, die einherging mit einem wenig überzeugenden Friedensschluss zwischen Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer. Doch als der Wahlkampf im Spätsommer 2017 so richtig losgeht, gilt Merkel schon als die sichere Siegerin. Für die letzten Wochen ist das mehr Bürde als Beruhigung.

Störer, Tröten, Trillerpfeifen? Die Kanzlerin schimpft nicht dagegen an

Merkel sitzt an ihrem Arbeitstisch, sie wirkt konzentriert, nicht gehetzt; gelassen, nicht angespannt. Es geht um den Wahlkampf, die Flüchtlingspolitik, das Verhältnis zur CSU. Mehr als 50 Städte wird sie am Ende auf ihrer Tour besucht haben.

Früher ist sie in Wahlkämpfen schon mal heiser geworden, gerade wenn es Landtagswahlkämpfe in der kalten Jahreszeit waren. In diesem Jahr klingt sie noch normal, obwohl sie oft lauter sprechen muss, um gegen die Proteste anzukommen, vor allem in Ostdeutschland. Merkels Stimme hält. Aber die Stimmung ist an manchen Orten ziemlich ruppig.

"Ich glaube, dass es richtig ist, sich dem zu stellen", sagt Merkel dazu immer wieder. So eine Rede ist ein körperlicher Kraftakt, aber Merkel steht auf der Bühne vorne ja wenigstens noch etwas weiter weg von den Tröten und Trillerpfeifen. Die Leute, die den Krach direkt neben sich aushalten müssen, die tun ihr leid.

Und die Kanzlerin wundert sich, dass ein paar Dutzend Störer häufig mehr Aufmerksamkeit bekommen als Hunderte Menschen, die zuhören wollen. Für ihre politischen Gegner bedeutet dieses Echo beachtlichen Ertrag bei geringem Aufwand. Deshalb schimpft Merkel auch nicht dagegen an, wie es manche von ihr gefordert haben. Aus ihrer Sicht steht jede Provokation für sich.

Angst hat Merkel wohl nicht, Sorgen um ihre Sicherheit machen sich andere. Eine Tomate hat sie getroffen, links unten am Blazer. Jeden Auftritt überwachen Polizisten am Boden und oft Scharfschützen auf den Dächern. In Schwerin und Parchim ist Merkel jüngst in Hallen umgezogen, ein Auftritt draußen erschien dem Bundeskriminalamt zu riskant.

Oft führt der Weg zur Bühne durch die Reihen der Zuschauer, unter ihnen auch Flüchtlinge. Manche wollen gemeinsame Selfies. Lässt sie die Fotos zu, hört sie schon mal Sätze wie: Die Ausländer mag sie lieber als uns. Aber auch die Deutschen kriegen ihre Bilder.

Selfies, damals mit Flüchtlingen, galten Merkels Kritikern 2015 als verheerendes Signal an die Wartenden in den Flüchtlingslagern der Türkei, Libanons oder in Jordanien, ebenfalls nach Deutschland aufzubrechen. Selfies erschienen als Sinnbild einer überzogenen Willkommenskultur. Diese Kritik drängte die Kanzlerin hart an den politischen Abgrund. Sie selbst hat den Vorwurf immer zurückgewiesen. 2017 nutzt sie nun Selfies, um für ihre Wiederwahl zu werben. Das ist durchaus Ironie nach dem Geschmack der Kanzlerin.

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Angela Merkel hat in dieser Legislaturperiode einen Vorwurf entkräftet, der die ersten zehn Jahre ihrer Kanzlerschaft so hartnäckig an ihr klebte wie Kaugummi an einer Schuhsohle: Diese Kanzlerin, so hieß es, würde niemals für eine politische Überzeugung ihr Amt aufs Spiel setzen. So wie es Gerhard Schröder mit der Agenda 2010 getan habe. Im Sommer 2015 hat sie es mit der Flüchtlingspolitik dann doch riskiert. Sollte Merkel an diesem Sonntag gewinnen, ist das aus der Sicht von damals mitnichten selbstverständlich.

Merkel sagt, sie würde alle grundsätzlichen Entscheidungen wieder so treffen. Sie weigert sich, Willkommenskultur und mehr Abschiebungen als unvereinbar zu sehen. Sie bestreitet eine Wende von offenen Grenzen zur Abschottung Deutschlands. Es sei ihr von Anfang an darum gegangen, den Zustrom zu steuern und zu verringern. Aus der Sicht Merkels kann ihr einen Kurswechsel nur jemand vorwerfen, der ihr unterstellt, dass sie von Anfang an alles einfach habe weiterlaufen lassen wollen, ohne zu reagieren. Ursprünglich alles nur habe treiben lassen wollen.

Jemand wie Horst Seehofer?

Der CSU-Chef sitzt einige Tage zuvor im Frühstücksraum eines Hotels, aber er frühstückt nicht. Seehofer redet über sich und Merkel, die CDU und die CSU. Und er hat viele Worte parat, die alle dasselbe schildern sollen: Merkels Zurückrudern. Schärfere Asylgesetze, Abschiebungen, eingeschränkter Familiennachzug. Alles auf Druck der CSU. Er sagt: "Voraussetzung für den gemeinsamen Wahlkampf war die Kursänderung in der Flüchtlingspolitik, die ja stattgefunden hat."

Der Streit über die Flüchtlingspolitik währte Monate, und er war heftig. Seehofer kanzelte Merkel auf dem CSU-Parteitag 2015 ab, er drohte mit einer Klage, sprach von einer Herrschaft des Unrechts. Heute sagt er über sich und die CSU: "Wir haben nicht überzogen." Merkel nahm das Wüten hin, reagierte niemals öffentlich, ließ sich nicht reizen. Jede Provokation steht für sich.

Nie kam es jenseits der Sachfragen zu einer persönlichen Aussprache der beiden Parteichefs, die Blöße gab sich keiner - Seehofer nicht, weil er sich im Recht sah; Merkel nicht, weil sie von Psychozeug in der Politik nicht viel hält. Und weil sie glaubt, dass es bei Seehofer schon gleich gar nichts bringt.

Man kennt sich ja. Nur im kleinsten Kreis ihrer Vertrauten dürfte sich die Kanzlerin Luft gemacht haben, in jenem Kreis, aus dem garantiert nichts nach außen dringt - bis auf Merkels Ausdruck dafür, sich etwas von der Seele zu reden: "Absprechen" nennt sie das.

Freitagabend vor der Wahl: Merkel und Seehofer treten gemeinsam in München auf. Demonstrative Einigkeit. Seehofer bittet Merkel zur Begrüßung in aller Höflichkeit nach vorne. Der Marienplatz ist voll, der Applaus der geladenen Gäste freundlich. Aber auch Hunderte Störer sind gekommen. Seehofer wird gellend ausgepfiffen, Merkel auch, kein Unterschied.

Gegen die tobenden Proteste amschreien

Die Kanzlerin war schon in Heppenheim und Ulm. Sie muss sich konzentrieren bei ihrer dritten Rede an diesem Tag. In der Heimatstadt der Willkommenskultur schreit sie gegen die tobenden Proteste an. "Dass die sich das antut", sagt ein Zuhörer fassungslos zu seinem Nachbarn. Doch Merkels Blick ist hart, das Gesicht ernst. Man kann es nicht anders sagen: Angela Merkel sieht an diesem Abend richtig fertig aus.

Die Flüchtlingspolitik hätte Merkels politisches Ende bedeuten können. Aber weder die CSU noch Merkels Kritiker in der CDU hatten die Antwort auf die entscheidende Frage: wer dann? "Sie hat ihre Popularität bis an die Grenze ausgereizt", sagt ein Weggefährte. Die Außenpolitik bot der Kanzlerin zudem die Chance, Konrad Adenauers Devise zu übernehmen: keine Experimente. Der Ärger über Merkels Flüchtlingspolitik hat der AfD genutzt, doch die Sorge vor der Politik Trumps, Erdoğans und Putins hat der Kanzlerin genutzt. So gleicht sich manches wieder aus.

Paradoxerweise hat die Außenpolitik in Merkels Wahlkampfreden keine bedeutende Rolle gespielt. Offenbar setzt sie darauf, dass zwölf Jahre Erfahrung auch so den Weg ins Bewusstsein der Leute gefunden haben. In der Woche vor der Wahl verzichtete Merkel auf die Reise zu den Vereinten Nationen. Sie überließ die obligatorische Rede vor der Generalversammlung in New York ihrem Außenminister von der SPD, der gar nicht anders konnte, als dem eigenen Kanzlerkandidaten mal wieder die Show zu stehlen. Merkel macht die Weltbühne für ihren Vizekanzler frei - man muss das nicht gleich als Signal für ihre Koalitionspräferenz sehen. Aber man kann.

© SZ vom 23.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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