Ungarn-Aufstand 1956:Ungarns kurzer Traum von der Freiheit

Der Wiener Fotograf Erich Lessing setzte dem Ungarn-Aufstand mit seinen Bildern ein Denkmal. Besuch bei einem 93 Jahre alten Herrn, der damals alle Illusionen verlor.

Von Ruth Eisenreich

Kurz nach halb zehn Uhr abends kippt Josef Stalin aus den Latschen. Demonstranten reißen die acht Meter hohe Bronzestatue des im März 1953 verstorbenen sowjetischen Diktators mit Lastwagen von ihrem Sockel auf dem Budapester Paradeplatz, nur die fast mannshohen Stiefel bleiben stehen. Es ist der 23. Oktober 1956. Einen kurzen historischen Moment lang sieht es vor exakt 60 Jahren so aus, als würde mit der Stalin-Statue auch die kommunistische Diktatur in Ungarn stürzen. Am Ende dieser historischen Tage sind viele Hundert Menschen tot und mit ihnen die Hoffnung auf ein neues Ungarn.

Der Wiener Magnum-Fotograf Erich Lessing hat den Ungarnaufstand miterlebt und für die Nachwelt festgehalten. Lessing ist heute 93 Jahre alt, er wohnt am Rande von Wien, da, wo die Stadt schon bald in Wälder und Weinberge ausfranst. Eigentlich gibt Lessing keine Interviews mehr, er hört und geht nicht mehr allzu gut; aber seine Erzählungen vom Herbst 1956 sind so lebendig wie die hellwachen blauen Augen unter den buschigen Brauen in seinem runden Gesicht. "Lauter Amateure" seien damals am Werk gewesen, sagt er - und trotzdem sei der Ungarnaufstand der Anfang vom Ende des Kommunismus gewesen, die erste Bruchstelle sozusagen in der Mauer, die 1989 einstürzen sollte.

Als Magazinfotograf hatte Lessing seit 1954 viel Zeit in Ungarn verbracht. Er fotografierte Fußballspiele und Fronleichnamsprozessionen, Arbeiter am Hochofen und schlemmende Damen beim Fünf-Uhr-Tee an der Budapester Donaupromenade. "Oberflächlich betrachtet, war das tägliche Leben in Budapest das einer nicht sehr reichen, aber auch nicht verarmten Stadt", erinnerte sich Lessing 2006 in der österreichischen Zeitung Der Standard: "Aber unter dieser Oberfläche, da brodelte es."

Im Frühling 1956, drei Jahre nach Stalins Tod, erlauben die Kommunisten mehr Meinungsfreiheit in der Sowjetunion und den Satellitenstaaten. In Budapest wird der Petőfi-Kreis, ein Diskussionszirkel kommunistischer Intellektueller, ein beliebtes Forum für Regimekritik. Im Juni 1956 ist auch Erich Lessing dabei. Man habe die Diskussion per Lautsprecher in den Hof übertragen, wo sich Hunderte Menschen drängten, schreibt er in seinem Bildband "Budapest 1956".

Der Ober sagt: "Das Gulasch ist heute ganz besonders gut."

Der Aufstand beginnt mit einer Demonstration von Studenten. Sie fordern Demokratie, den Abzug der sowjetischen Truppen, und sie wollen den ehemaligen Ministerpräsidenten Imre Nagy zurück, einen Reformkommunisten, der 1955 abgesetzt worden war. Die Demonstranten werden immer mehr, Arbeiter schließen sich ihnen an, viele Tausend Menschen versammeln sich am Kossuth-Platz vor dem Parlament und verlangen, dass ihr Manifest im Rundfunk verlesen wird. Stattdessen hören sie dort die Stimme des stalinistischen Parteisekretärs Ernő Gerő: Er nennt sie "Konterrevolutionäre und Faschisten". Von da an überschlagen sich die Ereignisse.

Noch in derselben Nacht wird Nagy tatsächlich zum Ministerpräsidenten ernannt. Aber da haben Protestierende schon die Stalin-Statue gestürzt, andere sind zum Rundfunkgebäude gezogen, wurden dort von Staatssicherheitsbeamten beschossen, es gibt Tote und Verletzte. In den frühen Morgenstunden rumpeln, zu Hilfe gerufen von Parteichef Gerő, sowjetische Panzer in die Stadt. "Mit derselben Strategie haben die Sowjets 1953 die Protestierenden in der DDR eingeschüchtert und den Aufstand beendet", sagt die ungarische Historikerin Ibolya Murber: "Aber in Ungarn hatten die Panzer den gegenteiligen Effekt."

Ein Generalstreik wird ausgerufen, in den Fabriken bilden sich Arbeiterräte. Ungarische und sowjetische Soldaten, die den Aufstand niederschlagen sollten, verhalten sich passiv oder solidarisieren sich mit den Aufständischen, lassen sie auf ihren Panzern mitfahren. Lessing fotografiert einen Maler in Trenchcoat und Hut, der seelenruhig mitten in den Wirren der Revolution das alte republikanische Kossuth-Wappen auf die eroberten Geschütze und Armeefahrzeuge pinselt.

Erich Lessing dokumentiert die Eskalation der Gewalt

Die Stimmung im Budapest jener Tage ist beschwingt und hoffnungsvoll. Am 25. Oktober aber demonstrieren Tausende Menschen vor dem Parlament, als plötzlich von den Dachgeschossen der umliegenden Häuser Schüsse auf die Menge niederprasseln. Dutzende werden getötet und verletzt, verantwortlich ist wohl erneut der verhasste Staatsschutz. Am 30. Oktober belagern Aufständische das Hauptquartier der Kommunistischen Partei. Als sich die Verteidiger - darunter auch junge Wehrpflichtige, die ungefragt bei der Staatssicherheit gelandet waren - schließlich ergeben, werden sie von den Aufständischen grausam gefoltert und gelyncht.

Auch diese Lynchmorde hält Erich Lessing mit seiner Kamera fest. Eines seiner verstörendsten Fotos zeigt einen Mann, der kopfüber an den gefesselten Füßen an einem Baum aufgehängt wurde. Sein Hemd ist ihm über den Kopf gerutscht, auf dem entblößten Rücken Striemen und Wunden. Mehrere Männer stehen um ihn herum, sie schauen ihn teilnahmslos an.

Diese Seite der Geschichte blendet das offizielle Ungarn später lieber aus. Vor einer Fotoausstellung 1996 schreibt Lessing in seinen Erinnerungen, habe der Kurator des Museums für ungarische Geschichte - selbst ein ehemaliger politischer Häftling - ihn gebeten, die Bilder der Lynchjustiz nicht zu verwenden: "Wir wollen doch nicht, dass dies das Bild unserer Revolution ist."

Vereinzelt kommt es 1956 auch zu antisemitischen Gewalttaten, die meisten Zeitzeugen und Forscher gehen aber davon aus, dass - anders, als die kommunistische Propaganda behauptet - Faschismus und Antisemitismus nur eine geringe Rolle spielen. Ungarn hatte unter den faschistischen Pfeilkreuzlern 1944/45 zu Hitlers letzten Verbündeten gehört.

Ungarn-Aufstand 1956: Erich Lessing wurde 1923 in Wien geboren. 1939 flüchtete er vor den Nazis aus Österreich. Seine Bilder - er war Mitglied der berühmten Fotografenkooperative Magnum - gingen um die Welt. Erich Lessing lebt in Wien.

Erich Lessing wurde 1923 in Wien geboren. 1939 flüchtete er vor den Nazis aus Österreich. Seine Bilder - er war Mitglied der berühmten Fotografenkooperative Magnum - gingen um die Welt. Erich Lessing lebt in Wien.

Die Lage in Budapest ist chaotisch in diesen Tagen; Gerüchte schwirren durch die Stadt. "Es gab die Leute, die im Keller saßen und sich versteckten", sagt Erich Lessing, "und andere, die demonstrierten oder schossen. Und die, an denen das alles völlig vorbeiging." So mancher spaziert an den Leichen gefallener Soldaten vorbei zum Einkaufen. "Hier werden Geschäfte angezündet, dort wird geschossen", erinnert sich Lessing, "und ich komme von einer Schießerei zurück ins Hotel Duna, und der Oberkellner sagt: Herr Lessing, das Gulasch ist heute ganz besonders gut."

Eine Woche nach Beginn des Aufstands, der sich auf ganz Ungarn ausbreitet, scheinen sich die Hoffnungen der Protestierenden zu erfüllen. Die Kämpfe enden, Nagy nimmt nicht-kommunistische Parteien in die Regierung auf, neue Zeitungen werden gedruckt - darunter die Népszabadság, die 60 Jahre lang erscheint und Anfang Oktober 2016, nach Jahren der Kritik an der autoritären Orbán-Regierung, von einem Tag auf den anderen eingestellt wird.

Die vergebliche Hoffnung der Ungarn auf den Westen

Die Ungarn hoffen im Oktober 1956, dass ihnen der Westen gegen die Sowjets zur Seite springen wird. Aber die USA und ihre Verbündeten sind mit der Suezkrise beschäftigt und sehen Ungarn ohnehin als Teil der sowjetischen Einflusssphäre, sie wollen keinen neuen Weltkrieg riskieren. "Irgendwann", erinnert sich Erich Lessing, "kam die Nachricht, dass die in Deutschland stationierten amerikanischen Truppen auf Urlaub geschickt wurden. Da war klar: Das hat alles gar keinen Sinn."

Ende Oktober signalisieren die Sowjets Verhandlungsbereitschaft, ihre Truppen beginnen sich zurückzuziehen. Am 1. November verkündet Nagy den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt und die Neutralität. Er weiß nicht, dass die Sowjets schon an seiner Absetzung arbeiten. János Kádár, selbst ehemaliger Häftling unter den Stalinisten und seit wenigen Tagen Parteichef, und Innenminister Ferenc Münnich werden heimlich nach Moskau geflogen und beschließen mit den Sowjets die Bildung einer Gegenregierung.

"Mein Instinkt hat mir gesagt, das geht nicht gut aus"

Erich Lessing fährt am 3. November nach Osten, um den Abzug der Russen zu beobachten. Da kommen ihm plötzlich sowjetische Panzer entgegen. Lessing kehrt um und fährt zurück nach Wien: "Mein Instinkt hat mir gesagt, das geht nicht gut aus." Am 4. November um vier Uhr früh werden die Budapester erneut vom Donner sowjetischer Kanonen geweckt. Imre Nagy sucht in der jugoslawischen Botschaft Asyl. Als er sie zwei Wochen später mit der Zusicherung freien Geleits verlässt, wird er entführt, später an Ungarn ausgeliefert und im Juni 1958 hingerichtet.

Die Aufständischen greifen wieder zu Waffen, aber sie haben keine Chance. Und circa 200 000 Ungarn fliehen zu Fuß über die nur schwach gesicherte Grenze nach Österreich, wo sie mit Butterbroten und heißem Tee empfangen werden. Auch die Massenflucht ist heute nicht Teil der offiziellen ungarischen Erinnerung an 1956, sagt die Politologin Melani Barlai von der Andrássy Universität Budapest; sie wäre schwer zu vereinbaren mit der flüchtlingsfeindlichen Haltung der aktuellen ungarischen Regierung. Unter Kádár ist 1956 Schluss mit den Freiheiten. Das Einparteien-System wird wieder eingeführt, mehr als 200 Menschen werden hingerichtet, fast 20 000 landen im Gefängnis.

Erich Lessing fährt kurz vor Weihnachten wieder nach Budapest. Er fotografiert ein Hochzeitspaar und eine Weihnachtsbaumverkäuferin im Schnee, sowjetische Soldaten vor dem Parlament, Menschen, die in ausgebrannten Geschäften nach Brauchbarem suchen. Über seinem Hotelbett sieht Lessing Einschüsse. "Die Menschen wollten eigentlich nur Ruhe", sagt er, "keine Schießereien mehr, keine Toten, keine Tanks." Der ungarische Schriftsteller György Konrád schreibt über die Zeit nach dem Aufstand: "Die Seele drehte sich zur Wand und zog die Decke über den Kopf."

Ausgerechnet Kádár entwickelt später jene offenere Politik, die als Gulaschkommunismus bekannt wird. Er bleibt bis 1985 Parteichef und schafft es, als milder Landesvater der "fröhlichsten Baracke des Ostblocks" in Erinnerung zu bleiben. 1989 lassen sich seine Nachfolger friedlich aus dem Amt drängen.

Heute, sagt die Politologin Melani Barlai, instrumentalisieren alle Parteien das Gedenken an 1956. Die nationalkonservative Fidesz-Regierung reklamiert den Antikommunismus von 1956 für sich. Und die zersplitterte linke Opposition sieht sich in der Nachfolge der Aufständischen, die gegen eine autokratische Regierung kämpften. Lessing aber hat in Ungarn alle Illusionen verloren, die er über die Macht der Bilder hatte: "Budapest hat gezeigt, dass die öffentliche Meinung keinen Einfluss hat."

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