Europäische Union:Höchste Richter warnen vor Verfall der Demokratie in Europa

Lesezeit: 1 min

Hunderttausende Polen protestierten Anfang Mai gegen die Politik der Regierungspartei. (Foto: Wojtek Radwanski/AFP)
  • In einem gemeinsamen Interview mit der SZ äußern sich Andreas Voßkuhle und Laurent Fabius zur Zukunft Europas.
  • Die Verfassungsgerichtspräsidenten Deutschlands und Frankreichs warnen vor einer Zerstörung des Rechtsstaats und einem Verfall der Demokratie - insbesondere mit Blick auf Polen und Ungarn.
  • Auch zum Brexit äußern sie sich ungewöhnlich pointiert.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe, und Stefan Ulrich

Die Verfassungsgerichtspräsidenten Deutschlands und Frankreichs warnen vor einer Zerstörung des Rechtsstaats und einem Verfall der Demokratie in Europa. In einem Doppelinterview mit der Süddeutschen Zeitung und Le Monde zeigen sich Andreas Voßkuhle und Laurent Fabius über die Entwicklung in Polen und Ungarn alarmiert. "Natürlich sind wir besorgt über das, was dort passiert", sagte der frühere französische Premier- und Außenminister Fabius, der dem Conseil constitutionnel in Paris vorsteht, dem französischen Verfassungsgericht. "Wer die Befugnisse eines Verfassungsgerichts einschränkt, wie das in Polen der Fall ist, der greift den Kern des Rechtsstaats an."

Voßkuhle sagte, die Europäische Union sei "in keinem guten Zustand". In dieser Lage müssten die Verfassungsgerichte helfen, die Rechtsgemeinschaft wieder zu stärken. Die EU müsse jetzt klar Position beziehen, wie sie rechtsstaatliche Prinzipien durchsetzen wolle. Der Umgang der Regierung in Warschau mit dem polnischen Verfassungsgericht sei "ein Irrweg für Europa und damit auch für Polen". Wo es keine wirksame Opposition, freie Wahlen und eine starke Presse gebe, könne Demokratie nicht gedeihen.

In ihrem dramatischen Appell warnen Voßkuhle und Fabius auch vor einem nachsichtigen Umgang der EU mit Großbritannien bei den Verhandlungen über den Brexit. Das Land könne nicht gleichzeitig drinnen und draußen sein, sagte Fabius. Voßkuhle forderte: "Der Austritt muss für Großbritannien Konsequenzen haben." Wer die Privilegien der Europäischen Union in Anspruch nehme, müsse auch deren Lasten mittragen. Das Ausscheiden Großbritanniens könne eine Reform der EU einleiten: "Der Brexit ist ein Grund, darüber nachzudenken, ob wir die Institutionen der Europäischen Union verändern sollten."

Es ist sehr ungewöhnlich, dass sich die Verfassungsgerichtspräsidenten der beiden wichtigsten EU-Staaten gemeinsam und derart pointiert auch zur politischen Lage Europas äußern. Voßkuhle forderte, Deutschland und Frankreich müssten wegen der "besorgniserregenden Entwicklungen in Europa" zeigen, dass sie in vielen Grundfragen sehr nah beieinander stehen.

Sorge bereitet den Verfassungsexperten auch die Beschränkung von Grundrechten im Kampf gegen den Terror. "Wer die Freiheitsrechte im Namen angeblicher Effizienz knebelt, läuft Gefahr, das Spiel der Terroristen zu spielen", warnte Fabius. Sein deutscher Kollege sagte, Verfassungsgerichte seien nicht dazu da, den Sicherheitsbehörden eine Blankovollmacht zu geben. "In solchen Zeiten ist es gerade für Verfassungsgerichte sehr wichtig, unabhängig und furchtlos zu urteilen."

© Süddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusVerfassungsrichter Voßkuhle und Fabius
:"Die EU muss klar Position beziehen"

Sie sind besorgt über das, was in Polen und Ungarn passiert, Warschau greife den Kern des Rechtsstaates an. Aber Andreas Voßkuhle und Laurent Fabius sehen Europa auch von anderer Seite bedroht: Gerade in Zeiten von Terrorangst und Ausnahmezustand sei es wichtig, als Gericht "furchtlos" zu urteilen

Von Wolfgang Janisch und Stefan Ulrich

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: