Auschwitz-Gedenken und Antisemitismus:Wenn die Erinnerung verblasst

Vergessen die Deutschen, was im Nationalsozialismus passiert ist? Jeder fünfte Erwachsene unter 30 weiß nicht, was Auschwitz ist. Judenfeindliche Ressentiments halten sich hartnäckig in der Gesellschaft. Die Geschehnisse gehen in der Informationsflut des Internets unter - und ritualisierte Gedenktage wie der Jahrestag der Befreiung von Auschwitz wirken beim Nachwuchs nicht.

Oliver Das Gupta

"Über Napoleon spricht man immer noch, über Cäsar auch", sagt Max Mannheimer, "deshalb werden auch Hitler und seine Verbrechen nicht vergessen werden". In fünf Konzentrationslagern durchlitt der im heutigen Tschechien geborene Jude das Grauen der Nazi-Diktatur - er überlebte die furchtbaren Torturen, auch die in Auschwitz. Seit 26 Jahren besucht der alte Mann Bildungseinrichtungen, um davon zu erzählen. Von Hauptschule bis Universität sei alles dabei, sagt er.

Auschwitz-Gedenken und Antisemitismus: "Hitler und seine Verbrechen werden nicht vergessen". Max Mannheimer, ein Überlebender von Auschwitz, erzählt an Schulen vom Grauen des Holocaust.

"Hitler und seine Verbrechen werden nicht vergessen". Max Mannheimer, ein Überlebender von Auschwitz, erzählt an Schulen vom Grauen des Holocaust.

(Foto: Claus Schunk)

In ein paar Tagen wird er 92, er tut sich schwer mit dem Gehen, auch die Hörfähigkeit lässt nach. Aber Mannheimer will weitermachen. Das sei seine Aufgabe, sagt er.

Und es gibt noch immer viel zu tun - auch 67 Jahre nach der Befreiung der Mordfabrik Auschwitz durch Sowjettruppen am 27. Januar 1945. Das belegen zwei Erhebungen in den vergangenen Tagen: Eine Forsa-Umfrage ergab, dass jeder fünfte Erwachsene unter 30 nichts mit dem Begriff Auschwitz anfangen kann. Zuvor zeigte eine vom Bundesinnenministerium in Auftrag gegebene Antisemitismusstudie für den Bundestag, dass sich judenfeindliche Ressentiments hartnäckig in der deutschen Gesellschaft halten.

Vergessen die Deutschen, was im Nationalsozialismus passierte?

Was die Wissenslücken bei jungen Erwachsenen betrifft, bietet der Bielefelder Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer eine mögliche Erklärung: "Zahlreiche Jugendliche haben ein anderes Zeitgefühl als Erwachsene." Drastisch zeige sich das bei sozialschwachen oder problembeladenen Heranwachsenden: "Junge Menschen mit einer Lebenslage ohne Perspektive haben auch keine Perspektive in die Geschichte hinein", sagt Heitmeyer zur SZ. Mit anderen Worten: Wer keinen Grund hat, nach vorn zu schauen, schaut auch nicht zurück.

Auschwitz ist für manche in weiter Ferne - und doch so nah: Das ist an diesem Freitag wieder zu spüren, wenn Deutschland wie an jedem 27. Januar offiziell den Opfern des NS-Rassenwahns gedenkt. Diesmal sprach Deutschlands berühmtester Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki zu diesem Anlass im Bundestag. Als polnischer Jude hat er die Hölle des Warschauer Ghettos überlebt.

Problematische Ritualisierung von Gedenktagen

Die alljährliche Erinnerung an die Auschwitz-Befreiung gehört genauso zur Staatsräson der Bundesrepublik wie der 9. November - der Tag, an dem die Berliner Mauer fiel, an dem aber auch 1938 die Synagogen brannten. Doch gerade diese Erinnerungspflege wirkt beim Nachwuchs wohl häufig nicht. Wilhelm Heitmeyer fürchtet, dass die "Ritualisierung von Gedenktagen an der Lebenswirklichkeit jüngerer Menschen vorbeigeht". Das digitale Zeitalter wirkt dabei offenbar wie ein Katalysator: "Die Beschleunigung von Wissen und Nachrichten fördert das Verblassen von Erinnerungen."

Diese These wird gestützt durch die grundsätzlichen Beobachtungen des Flensburger Sozialwissenschaftlers Christian Gudehus. Forciert durch das Internet, vermengt sich demnach vieles im Geschichtsbewusstsein jüngerer Generationen, und sogar Fiktion und Realität werden manchmal nicht mehr vollständig unterschieden: "Das Mittelalter, Hitler, Rollenspiele - es gibt ein großes Durcheinander", sagt Gudehus zur SZ. "Alles vermischt sich, nach Epochen wird oft nicht getrennt."

Zum Desinteresse und dem historischen Mischmasch kommen noch immer bestehende antisemitische Ressentiments: Da sind die traditionellen antijüdischen Stereotype wie die Ansicht, die Juden besäßen zu viel Macht in der Gesellschaft oder versuchten, aus der Verfolgung während der NS-Zeit Vorteile zu ziehen. Und es gibt die jüngeren Anfeindungen, die mit dem Nahost-Konflikt begründet werden.

Die Judenhasser spielen sozusagen über eine brandgefährliche Bande: "Man nimmt die Deutschen jüdischen Glaubens in Sippenhaft für die Politik Israels", sagt dazu Sozialwissenschaftler Heitmeyer, auf dessen Untersuchungen am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung sich die Antisemitismus-Studie maßgeblich stützt.

Heitmeyer nennt weitere Phänomene:

[] Judenfeindlichkeit grassiert ausgerechnet in Landstrichen, in denen es gar keine Juden gibt.

[] Alte Stereotype wie die "jüdischen US-Banker von der Ostküste" werden angesichts der Finanzkrise neu belebt.

[] Die Generation der über 60-Jährigen ist maßgeblich daran beteiligt, dass die antisemitischen Muster nicht verschwinden.

Und ausgerechnet die neuen Medien erschweren den Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus: Angesichts moderner Kommunikationswege wie dem Internet sei die Verbreitung dieses Gedankengutes kaum zu unterbinden, stellte der Historiker Peter Longerich bei der Vorstellung der Antisemitismus-Studie fest. Und das gilt, obwohl das Internet auch massenhaft seriöse Informationen über den Holocaust bietet.

Auch wenn es um die Vorurteile gegenüber Juden geht, spielt die Hoffnung eine Rolle, die der Einzelne für die eigene Zukunft hegt. So sind Heitmeyer zufolge Menschen mit Perspektive weniger anfällig für diesen bräunlichen Brei aus Vorurteilen, Hass und Bildungslücken.

"Moralische Zeigefinger haben in den Schulen nichts mehr verloren"

Hier kommt es auch darauf an, wie das Wissen über das Dritte Reich und den Holocaust weitergegeben wird: "Wir brauchen eine klügere Erinnerungskultur", sagt Charlotte Knobloch. Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde in München und Oberbayern kritisiert die Vermittlung der NS-Schrecken an den Schulen als veraltet: "Mit der teilweise aus den 70er Jahren stammenden Pädagogik erreichen Sie die jungen Menschen von heute natürlich nicht mehr."

Gedenkstunde im Bundestag

Der Literaturkritiker und Überlebende des Holocaust, Marcel Reich-Ranicki, wird von Bundestagspräsident Norbert Lammert zum Rednerpult geführt. Reich-Ranicki hält die Gedenkrede zur Erinnerung an die Befreiung von Auschwitz.

(Foto: dpa)

Das Gegenteil sei der Fall: "Moralische Zeigefinger, deutsche Schuld und historische Last haben in den Schulen nichts mehr verloren", sagt Knobloch. Aber das Wissen lasse die Jugend Verantwortung für diesen Staat, die Gesellschaft und die Würde der Mitmenschen übernehmen.

Sozialforscher Heitmeyer sieht hier alle heutigen Erwachsenen in der Pflicht: Die dominierende Generation der Älteren sei dafür verantwortlich, die Jungen zu sensibilisieren und zu informieren. Oder wie es Zentralrats-Vizepräsident Salomon Korn im SZ-Interview einmal formulierte: "Einflüsse der Geschichte werden im sozialen Erbgang untergründig weitergegeben."

Forscher-Kollege Gudehus hält es für wichtig, die Ressentiments durch die Wirklichkeit zu entkräften. Man müsse deutlicher zeigen, was das Judentum heute ausmacht: Damit Juden nicht nur als Verfolgte des NS-Regimes wahrgenommen werden - "sondern als Teil des heutigen Deutschland."

Interesse am Schrecken der NS-Herrschaft scheint es zu geben, das belegt die erwähnte Forsa-Erhebung: 56 Prozent der Befragten sind demnach dagegen, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen. 1994 war die Mehrheit noch dafür.

Vermutlich wird es künftig allerdings noch schwerer, die finsteren Jahre zwischen 1933 und 1945 den nachkommenden Generationen nahezubringen. Denn die Zahl der lebenden Zeitzeugen wird immer kleiner. Deren Berichte werden zwar gefilmt, aufgeschrieben und archiviert. "Aber solch eine gewissermaßen standardisierte Information ist weit weniger wirksam, als die tatsächliche Begegnung mit einem Menschen, der das Erlebte schildert."

Es geht um Begegnungen mit Menschen wie Max Mannheimer, der in der Tschechoslowakei lebte, als Hitlers Wehrmacht einmarschierte. Die Deutschen deportierten die gesamte Familie Mannheimer. In Auschwitz vergaste die SS Vater und Mutter, auch seine erste Frau und seine Schwester kamen um. Mannheimer und sein Bruder überlebten den Wahnsinn, über den er nun, so oft er kann, erzählt.

Seine Auftritte wecken reges Interesse: von Wissenslücken bei seinen jungen Zuhörern hat er nichts mitbekommen, auch nicht, dass es ein Gefälle beim Bildungsniveau gibt. Im Gegenteil: Bei Besuchen in Hauptschulen, die jetzt Oberschulen heißen, stelle man ihm sogar besonders gute Fragen. "Die sind oft weniger verdruckst als bei den Gymnasien", sagt Mannheimer. "Das sind keine Depperl. Die wollen wissen, warum ihre Urgroßeltern einem Massenmörder nachliefen."

Wie aber soll man mit dem Thema NS-Diktatur und Holocaust umgehen, wenn er und die anderen Zeitzeugen nicht mehr da sind? "Die Zeit ist ja ausreichend dokumentiert", so Mannheimer, also sei genug vorhanden, um die Lehren von Auschwitz zum Wohle künftiger Generationen weiterzugeben.

Doch sicher ist er sich nicht: "Ich stamme zwar aus dem Volke der Propheten, aber ich zähle mich nicht dazu", sagt Mannheimer und fügt hinzu: "Letztendlich hängt es von der Funktionsfähigkeit der deutschen Demokratie ab, ob das Kapitel weggeschoben wird."

Der Autor diskutiert bei Twitter unter https://twitter.com/#!/oliverdasgupta.

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