Ohne Vater aufwachsen:Protokoll einer verletzten Tochter

Ohne Vater aufwachsen: Jeannette Hagen litt Jahrzehnte darunter, dass ihr Vater sie nicht wollte.

Jeannette Hagen litt Jahrzehnte darunter, dass ihr Vater sie nicht wollte.

(Foto: Maya Meiners)

Jeannette Hagen wächst ohne leiblichen Vater auf. Ihr Erzeuger hat kein Interesse an seinem Kind. Über die lebenslange Suche nach Identität.

Von Lars Langenau

"Bis zu meinem zehnten Lebensjahr dachte ich, mein Stiefvater sei mein richtiger biologischer Vater. Zwar habe ich mich schon früh gewundert, warum ich niemandem in der Familie ähnele. Aber auch wenn ich heute denke, instinktiv schon immer gespürt zu haben, dass mit meiner Familie etwas nicht stimmt, war mein Stiefvater seit meinen frühesten Kindheitserinnerungen immer mein abgöttisch geliebter Papa. Sieben Jahre lang.

Dann gab es ein Familienfest - und eine Bemerkung meiner Cousinen ließ meine Realität explodieren: Ob ich denn wüsste, dass mein Papa gar nicht mein richtiger Vater sei? Es folgte ein Eklat, der darin mündete, dass meine Mutter mir schließlich die Wahrheit erzählte: Mein Papa, sagte sie, sei nicht mein leiblicher Vater. Sie habe ihn erst kennengelernt, als ich zweieinhalb Jahre alt war.

Ich habe mich auch selbst gesucht

Damit kamen die Fragen. Fragen, die mich bis heute beschäftigen. Und von diesem Tag an begann eine Suche - nicht nur nach meinem leiblichen Vater. Wer war dieser Mann? Hat er mir auch seine Schattenseiten vererbt? Ich habe mir von diesem Zeitpunkt an meinen leiblichen Vater immer als eine Mischung aus Terence Hill und Robert Redford vorgestellt, der so denkt und fühlt wie ich. Ich idealisierte ihn. Dabei hatte ich nur ein kleines Foto von ihm: Darauf war er groß, blond, blauäugig - genau wie ich. Ich dachte immer, wenn ich ihn sehe, erkenne ich ihn sofort.

Heute weiß ich, dass ich nicht nur ihn, sondern mich selbst gesucht habe. Aber erst spät habe ich begriffen, dass ich mich im Außen nicht finden konnte. Immer hatte ich bei meiner Suche Sehnsucht und Verzweiflung im Gepäck.

Mein Stiefvater ist für mich heute noch 'der Papa'. Er ist ein toller Mensch, hat mich angenommen wie seine leibliche Tochter, ist aber völlig anders als ich: Er ist nicht so emotional, der andere in den Arm nimmt, sie knuddelt und herzt, wie ich das tue. Er ist eher distanziert. Seine Beziehung zu meiner Mutter hielt noch vier Jahre. Dann kam die Scheidung. Und er verschwand eine ganze Zeit gänzlich aus meinem Leben. Es hätte ihn, sagte er, nach dem Bruch mit meiner Mutter zu sehr verletzt, mich zu sehen.

Als Kind wimmelte mich meine Mutter immer wieder ab: Du hast doch einen Papa, kümmere dich doch nicht um den anderen. Sie wollte nicht, dass er mir auch wehtut. 'Arsch' nannte sie ihn. Sie konnte nicht ahnen, dass sie mich damit auch zum 'Arsch' degradierte, dass ich fortan mein 'Anderssein' im Kopf mit dem 'schlechten' Vater verband. Dazu kam, dass, wenn man bereits als Kind mit einer massiven Lüge konfrontiert wird, sich lange die Frage stellt, was man überhaupt noch glauben kann.

UeberLeben
Überleben

Gesprächsprotokolle von Menschen über Brüche, Schicksale, tiefe Erlebnisse. Wenn Sie selbst Ihre Geschichte erzählen wollen, dann schreiben Sie eine E-Mail an: ueberleben@sz.de

Inzwischen weiß ich: Mein leiblicher Vater war damals verheiratet und hatte mit meiner Mutter nur eine Affäre. Durch mich war das Leben meiner beiden Elternteile zunächst einmal verpfuscht. Meine Mutter war 18, als sie mich bekam. Mein Vater verheiratet, seine Frau ebenfalls schwanger. Mein Halbbruder wurde neun Tage vor mir geboren, zweieinhalb Jahre später verließ mein Vater auch diese Familie. Mein Halbbruder wuchs also ebenfalls ohne unseren Vater auf. Wohl auf Drängen seiner Familie erkannte mein leiblicher Vater seine Vaterschaft auch bei mir an und zahlte immerhin Unterhalt bis zu meinem 18. Lebensjahr. Er scheint ein unsteter Mensch gewesen zu sein, der niemals glücklich zu sein schien. Ständig wechselte er seine Jobs wie seine Partnerinnen.

Durch mein Leben geisterte er jahrzehntelang wie ein Hirngespinst. Ein Irrsinn: Jemand, der gar nicht da ist, nimmt so viel Platz ein. Ich wollte, ich musste ihn suchen. Musste Antworten auf meine Fragen finden. Ich wollte ihn konfrontieren, um mich zu erlösen.

Beim ersten Kontaktversuch war ich 25 und gerade selbst Mutter geworden. Ich schrieb ihm einen Brief, auf den ich nie eine Antwort bekam. Irgendwann gab es ein Telefonat. Da brachte er deutlich zum Ausdruck, dass er wirklich kein Interesse hat. Ich fühlte mich wie aus der Welt gefallen. Es schmerzte entsetzlich. Aber ich gab nicht auf.

Man sieht mir meinen Makel nicht an

Die Enttäuschung war groß, als ich ihn mit fast 40 endlich traf. Er trat mir noch distanzierter entgegen, als ich vermutet hatte. Unsere Begegnung war ein bühnenreifes Theaterstück. Doch sein Nein zu mir war unumstößlich. Zeitgleich mit der Suche nach ihm nahm ich Kontakt zu meinen Geschwistern auf. Als ich meinen Halbbruder kennenlernte, der ein Abziehbild meines Vaters ist, hatte ich das Gefühl, endlich habe ich jemanden Starken an meiner Seite, ein Gefühl von Familie. Manchmal denke ich heute noch, dass es sicher etwas geheilt hätte, wenn ich meinem Vater unter anderen Umständen begegnet wäre.

Man sieht mir meinen Makel nicht an. Aber er sitzt wie ein Stachel unter der Haut. Er ist wie eine Wunde, die zeitlebens blutet. Es ist das Gefühl, betrogen worden zu sein, um die innige, warme Liebe eines Vaters. Einen den man umarmen kann. Bedingungslose Liebe und geliebt werden. Diese Sehnsucht bleibt. Und sicher auch die mangelnde Identifikation mit der männlichen Rolle.

Mit 17, 18 Jahren hatte ich immer noch keine innere Stabilität. Lange bin ich zur falschen Zeit an die falschen Leute geraten. Ich musste erst lernen, Verantwortung für mich selbst zu übernehmen. Dreimal habe ich versucht, mir das Leben zu nehmen.

Ich klebte damals an meiner Mutter wie eine Klette und vergaß, mich selbst zu entdecken. Mitten in der Pubertät war ich völlig neben der Spur. 1987 durfte meine Mutter in den Westen ausreisen. Ich blieb allein in Ostberlin. Bei mir blieb hängen: Ich war weder meinem Vater noch meiner Mutter wichtig genug, dass sie bei mir blieben. Bei mir hinterließ das das Gefühl, von niemanden gewollt zu sein. In dieser Zeit stürzte ich ab, wechselte meine Jobs wie andere ihre Unterwäsche, hatte Todessehnsucht und alle Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung, ohne dieses Wort zu kennen.

Ein halbes Jahr vor der Wende bekam ich meine Papiere. Aber auch in Westberlin war ich haltlos und begriff das Potenzial der Freiheit nicht. Als andere schon ihren Arzttitel in der Tasche hatten, mit Ende 20, verschlang ich Lebenshilfebücher, die noch heute meine Regale füllen. Nur: Die Motivation sie zu lesen, war damals falsch. Es ging mir immer um Selbstoptimierung. Das grundlegende Gefühl war, dass etwas mit mir nicht stimmt. Der Gedanke: Ich habe eine Macke, wieso bekommen alle anderen das Leben hin und ich nicht? Und dann wurde ich selbst Mutter. Die Ehe scheiterte aber nach zehn Jahren.

Es gibt viele Vaterentbehrungen

Unbewusst suchte ich den Typ Mann aus, der meinem Vater oder besser meinem inneren Bild des Vaters entsprach. Dabei wird doch nur das Drama immer wieder unbewusst fortgeführt. Und das böse Erwachen kommt, wenn der Mann die Beziehung verlässt, weil er sich nicht als Mann gesehen und geliebt fühlt. Jungen, die ohne Vater aufwachsen, werden oft zum Kümmerer - zu jemandem, der auf allen Ebenen ein Held sein will.

Es gibt viele Vaterentbehrungen: Durch Scheidung, Trennung - und manchmal geht sie von Vätern aus, denen der Beruf über alles geht. Ich mache hier keine Schuldzuweisung und bin raus aus der Rolle des Opfers. Aber ich habe immer Mädchen und Frauen beneidet, die ihren Vater haben.

Töchter, die so etwas erleben, reagieren unterschiedlich: Die eine wird zum ewigen Mädchen, andere zur geharnischten Amazone, die irgendwann in die Überforderungsfalle tappt. Ich habe beide Anteile. Lange war ich das kleine brave Mädchen, das keine Verantwortung für sich selbst trägt. Trotzdem war da der Drang, möglichst schnell erwachsen zu werden, um der Kindheit zu entkommen.

In manchen Phasen zählte für mich nur Leistung. Bis zum Umfallen. Ein extremer Perfektionismus saß mir im Nacken. 100 Prozent reichten mir nie: Ich wollte brillieren, gesehen werden, wollte, dass jemand sagt: Du bist großartig. Geld war für mich nie eine Motivation, aber dass jemand sieht, was ich kann. Ich suchte die Bestätigung immer außen.

In Partnerschaften baute ich Distanz auf, um nicht noch einmal so verletzt zu werden. Bis zu meiner ersten Ehe pflegte ich kurze Beziehungen, beendete sie selbst, weil ich lieber mich selbst und andere verletzte, als verlassen zu werden.

Der Schatz liegt immer hinter dem Drachen

Der Schatz liegt immer hinter dem Drachen. Um das zu erkennen, waren mehrere Therapien nötig. Sie öffneten mir die Augen für meine Eigenverantwortung in der Partnerschaft, in der Reflexion vieler meiner Verhaltensweisen. Heute bin ich davon überzeugt, dass Vaterentbehrung über Generationen weitergegeben wird. Man nennt das 'transgenerationale unbewusste Weitergabe eines Traumas'. Das wollte ich brechen - durch die Heilung des inneren Vaters.

Ich habe drei Kinder, mein Sohn ist bereits groß und ausgezogen und die beiden Kleinen wechseln jeweils zur Hälfte der Zeit zwischen ihrem Vater und mir. Trotz der Trennung gehen meine Kinder gefestigter ins Leben als ich. Davon bin ich überzeugt. Es sind wirklich geliebte Kinder. Von beiden Seiten.

Heute ist mein Glück völlig unabhängig davon, ob mein Vater jemals einen Schritt in meine Richtung macht. Ich musste ihn loslassen, um selbst frei zu sein. Ich konnte die Schuldzuweisungen irgendwann aufgeben, als ich erkannte, dass das zur Unfreiheit führte. Musste akzeptieren, dass er ein Teil von mir ist. Inzwischen habe ich meinen Schmerz und meine Wut aufgearbeitet und in mein Leben integriert.

Man muss sich mit sich selbst und dem eigenen Schicksal versöhnen. Die Kette der Wiederholungen durchbrechen, damit wir nicht selbst zum Täter werden. Ich hätte nie gedacht, wie viel Mut es braucht, sich von alten Mustern zu lösen und anzuerkennen, dass mein Leben die Summe meiner Erfahrungen und Entscheidungen ist.

Aber eins weiß ich: Jedes verlassene Kind ist ein verletztes Kind. Es spielt keinen Unterschied, ob der Vater einen nicht will oder die Mutter den Umgang verhindert. Die Folgen bleiben gleich."

________________________________

Jeannette Hagen, 48, lebt in Berlin und ist freie Autorin und systemischer Coach. Gerade hat sie ein Buch veröffentlicht: "Die verletzte Tochter. Wie Vaterentbehrung das Leben prägt", Scorpio Verlag, 16,99 Euro.

Überleben

Wir veröffentlichen an dieser Stelle in loser Folge Gesprächsprotokolle unter dem Label "ÜberLeben". Sie handeln von Brüchen, Schicksalen, tiefen Erlebnissen. Menschen erzählen von einschneidenden Erlebnissen. Wieso brechen die einen zusammen, während andere mit schweren Problemen klarkommen? Wie geht Überlebenskunst? Alle Geschichten finden Sie hier. Wenn Sie selbst Ihre erzählen wollen, dann schreiben Sie eine E-Mail an: ueberleben@sz.de

  • ÜberLeben "Tourette hat eben nichts mit 'Arschloch' zu tun"

    Jean-Marc Lorber hat das Tourette-Syndrom. Was er sich auf der Straße deshalb schon anhören musste und warum er ohne obszöne Worte auskommt.

  • Shufan Huo Die Not nach dem Trauma

    Durch Zufall gerät eine junge Ärztin in die Katastrophe auf dem Berliner Breitscheidplatz. Sie hilft sofort, wird selbst aber mit quälenden Gefühlen allein gelassen. Sie ist nicht die Einzige.

  • "Unsere gemeinsame Zeit war einfach vorüber"

    Trennungen tun meistens weh. Doch wie ist das, wenn man älter ist - und sich mit 60 noch einmal völlig neu orientieren muss? Eine Psychotherapeutin berichtet.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: