SZ.de: Bei Ihren Lesungen sind viele Zuhörer berührt, manche weinen. Wie können Sie sich das erklären?
Jeannette Hagen: Weil sich Zuhörer und Leser wiedererkennen. Bei Lesungen stelle ich immer die Frage: Wer von euch hatte denn einen liebenden Vater und dann entsteht ganz schnell ein ganz klares Bild. Maximal 20 Prozent melden sich. Von dem Phänomen, dass der Vater fehlt, sind eben sehr viele Personen betroffen, sei es durch Ablehnung, Trennung oder Tod. Eigentlich hätte mein Buch das 'verletzte Kind' oder 'Nicht ohne meinen Vater' heißen müssen. Es geht ja darin nicht nur um Töchter, sondern auch um Söhne.
Haben Männer, die von der Mutter der gemeinsamen Kinder getrennt leben, keine Chance, ein guter Vater zu sein?
Doch! Man kann dem Kind immer wieder signalisieren, dass man da ist. Auch als jemand, der seine Kinder nur alle 14 Tage sieht. Allein das Angebot der Präsenz des Vaters, so frustrierend das auch manchmal für den Vater selbst sein mag, wird diesen Kindern später helfen.
Sie nennen Ihr Buch 'Die verletzte Tochter'. Können Sie erklären, was diese Frauen kennzeichnet?
Frauen, die Vaterentbehrung erlebt haben, sind häufig geprägt durch mangelndes Selbstbewusstsein und davon, dass sie sehr oft kein Gefühl für ihre Selbstwirksamkeit haben. Sie verstehen nicht, was sie an- und ausrichten können und tragen ihren Schmerz in die nächste Generation weiter. Das drückt sich allerdings in sehr unterschiedlichen Verhaltensmustern aus.
Sie differenzieren zwischen zwei Reaktionstypen bei diesen Töchtern.
Einmal ist da die Amazone, die trotzig sagt: Dir zeige ich es jetzt erst recht. Sie konzentriert sich auf ihre Karriere und ihr Starksein, legt sich einen Panzer zu, spaltet die Gefühle ab. In unserer Leistungsgesellschaft fallen solche Frauen nicht auf, aber sie sind damit nicht glücklich.
Den zweiten Typus nennen Sie Puella.
Der Ausdruck stammt nicht von mir, aber er trifft es hervorragend: Das kleine, sich ewig vor der Verantwortung drückende Mädchen. Die Frau, die nur nach dem passenden Mann sucht, der ihrem Vater ähnelt oder sie rettet. Diesem Typus begegnet man quer durch alle Gesellschaftsschichten.
Jungen lernen durch das Rangeln mit dem Vater ihre eigenen Grenzen kennen und die des anderen. Väter setzen andere Grenzen als Mütter. Außerdem ist der Vater in dem Mutter-Vater-Kind-Dreieck derjenige, der dem Kind die Möglichkeit gibt, sich von der Mutter zu lösen und eine eigenständige Persönlichkeit zu entwickeln. Bei vaterlosen Kindern sieht man oft die enge Bindung an die Mutter, die dann irgendwann in Verachtung umschlagen kann. Oder die Kinder schaffen es eben überhaupt nicht, sich zu lösen. Ich selbst habe mich aus der viel zu engen Bindung erst durch Therapien lösen können.
Manche Personen trauen sich nicht an ihre Verletzung ran. Was sagen Sie denen?
Wir haben alle unsere Verletzungen. Ich kenne niemanden, der in seiner Kindheit nicht irgendwas erlebt hat, dass ihn maßgeblich geprägt hat. Viele scheuen vor der erneuten Begegnung zurück, weil es schmerzt. Aber oft genug zwingt einen das Leben dazu, sich die Verletzungen in der Kindheit noch mal anzuschauen. Macht man das nicht, bleibt dieser Teil der Persönlichkeit abgespalten. Wir leben dann nur einen Bruchteil unserer Möglichkeiten. Man kann das zum Beispiel bei sehr braven Kindern beobachten, die den eigentlich wilden, kindlichen Teil ihrer Persönlichkeit sehr früh verleugnen müssen, weil sie damit an den Emotionen der Eltern rütteln. Sie geben aus Liebe zu den Eltern unbewusst etwas auf und zahlen als Preis ihre Lebendigkeit.
Eine Therapie kann da helfen?
In vielerlei Hinsicht. Ich habe mir damals Hilfe gesucht und angefangen, mein Verhalten zu reflektieren. Anderenfalls wäre ich wohl in Depressionen versunken und hätte nicht verstanden, woher sie kommen. Egal, ob Psychotherapie oder etwas anderes: Jeder muss selbst herausfinden, was für ihn passt. Auch wenn es wehtut, es lohnt sich.
Wie wirkt sich der Mangel sonst in einer Beziehung aus?
Jeder hat seine Eltern verinnerlicht und ertappt sich bei Wiederholungen. Deshalb ist es für viele Frauen und zunehmend auch Männer wichtig, den 'inneren Vater' zu heilen, weil man sonst in jeder Beziehung seinen eigenen Vater sucht oder sich unbewusst an dem inneren Bild abarbeitet, indem man es auf andere projiziert. Damit muss zum Beispiel fast zwangsläufig jede Beziehung scheitern, denn jeder Mann ist mit dem, was man ihm überstülpt, überfordert. Das ist ja auch nicht seine Aufgabe, der Vater seiner Partnerin zu sein.
Sind Frauen, die Vaterentbehrung erlebt haben, unfähig für eine Partnerschaft?
Nein, unfähig sind sie nicht, aber sie müssen sich selbst auf die Spur kommen. Wenn man zum fünften Mal an denselben Typ Mann geraten ist, mit dem es nicht klappt, dann sollte man sich mal fragen, wo der eigene Anteil an diesem Phänomen liegen könnte, oder? Die Statistik sagt, dass Frauen mit Vaterentbehrung sich viel häufiger scheiden lassen, als jene, die einen liebenden Vater hatten.
Ich habe immer nach dem idealisierten Vater geschaut, dem Helden. Ich wollte hofiert werden, die Prinzessin sein. Meine Macken sollte mir der Partner gefälligst nachsehen. Dieses Konstrukt schloss auch aus, dass jeder Mann seine Ecken und Kanten hat. Das funktioniert natürlich nicht. Aber so geht es vielen. Was beim eigenen Vater nicht gelang, wird vom Partner eingefordert. Männer werden dressiert, passend gemacht. Das ist schade, denn damit verlieren sie ihren Gegenpart in der Beziehung. Damit züchten wir uns Co-Muttis heran.
Klingt nicht nach Augenhöhe.
Nein, natürlich nicht. Denn gleichzeitig wollen wir Frauen ja auch einen Mann. Viele Frauen schwanken zwischen einem Verhalten, das sie von ihren Müttern kennen und übernommen haben und dem eines kleinen Mädchens. Klar, dass mich die Männer dann auch nicht als eine erwachsende Frau wahrgenommen haben.
Ist das eine Frage des Alters? Ist die Suche einer jungen Frau nach einem älteren Mann immer ein psychologisches Defizit?
Ich glaube schon. Ganz früher waren meine Partner oft viel älter. Mit der Zeit und mit meiner Aufarbeitung hat sich das geändert. Ich brauche heute keinen "Vater" mehr an meiner Seite.
Charlie Chaplin heiratete mit 54 Jahren eine 18-Jährige und scheint mit ihr glücklich geworden zu sein.
Das kann ja auch gutgehen, ich will das nicht ausschließen. Aber für mich stimmte irgendwann die Motivation nicht. Ich verstand, dass ich den fehlenden Vater und nicht den Mann an meiner Seite wollte. Dass ich mich nach Halt und Stabilität sehnte. Eigentlich Komponenten, die ein selbstsicherer Mensch verankert hat und nicht im Außen suchen muss.
Aber suchen wir das nicht in allen Beziehungen?
Bis zu einem gewissen Grad ja, aber in einer Beziehung auf Augenhöhe kann ich bei mir bleiben und fordere vom Partner nicht, dass er meinen inneren Mangel ausgleicht. In so einer Beziehung brauche ich den anderen nicht. Wie bei dem oft zitierten Blinden und Lahmen, die sich gegenseitig stützen, mag das vielleicht eine Weile funktionieren, aber dann wird irgendwann klar, dass dieses Konstrukt eben nur auf dem Mangel beruht. Und wenn zwei Mangelwesen aufeinandertreffen, produziert man immer Machtspiele.
Zu einem gewissen Teil scheint es, als hätten Sie das Buch geschrieben, um selbst das Trauma der verletzten Tochter zu verarbeiten. Geht Heilung immer nur von einem selbst aus?
Ja, absolut. Wir müssen uns um unsere Verletzungen kümmern. Das kann uns niemand abnehmen. Selbst wenn ich meinen Vater, der mich immer verleugnete, heute sehen und er sich entschuldigen würde, kann das vielleicht einen Teil heilen, aber es macht im klassischen Sinne nichts mehr gut. Das innere, idealisierte Vaterbild, das "verrückte" Männerbild, die Art, wie ich bin, das kann nur ich selbst heilen. Stück für Stück.
Auch viele Väter sind verletzt. Frauen können sich nach einer Trennung an ihren Männern rächen, indem sie ihnen die Kinder vorenthalten. Das ist also nicht nur eine Bestrafung für den Mann, sondern auch für die Kinder?
Ja. In meinen Augen missbrauchen diese Frauen ihre Kinder als Macht- und Druckmittel. Und sie haben offensichtlich keine Ahnung davon, was sie ihnen und auch den Vätern damit antun.
Was sagen Sie diesen Frauen?
Das kann man kaum in drei Sätzen zusammenfassen, denn die Situationen sind sehr individuell. Bei hochstrittigen Paaren helfen Ratschläge gar nichts. Grundsätzlich sollten Frauen, bevor sie das Klima zwischen dem Vater und den Kindern vergiften, nach ihrem eigenen inneren Vater- und Männerbild schauen und das trotz all der Verletzungen, die während einer Trennung geschehen, für sich bearbeiten. Die Bereitschaft, sich dann zusammen an einen Tisch zu setzten, bekommt man hin. Und sei es mit Hilfe einer Mediation, in der zusammen individuelle Regeln für den Umgang mit den gemeinsamen Kindern aufgestellt werden.
Manche alleinerziehende Mütter bringen sich fast um für ihre Kinder und stehen kurz vor dem Burn-out: Es scheint, als wollten sie aus schlechtem Gewissen über die Trennung vom Vater ihres Kindes ihn selbst ersetzen wollen. Geht das?
Nein. Warum auch? Es gibt ihn in der Regel doch, den Vater. Statt zu meinen, dass nur frau weiß, was richtig ist, sollten sie doch eher die Lässigkeit haben, sich zurückzulehnen und den Mann auch teilhaben lassen. Natürlich regelt er die Dinge anders. Aber warum denn auch nicht? Mich stört diese ewige Gleichmacherei. Es gibt Frauen und Männer. Punkt. Wobei - das möchte ich nicht unter den Tisch fallen lassen: Es gibt auch Väter, die sich einfach nicht kümmern wollen.
Nein, und man sollte daran rütteln. Es gibt so viele Väter, die sich engagieren wollen und zu Zahl- und Wochenendvätern degradiert werden. Mütter haben die Macht, den Vater seinen Kindern zu entfremden. Da ist das geltende Unterhaltsgesetz auch nicht gerecht, denn es rechnet dem Mann die Zeit, die er mit den Kindern verbringt, finanziell nicht an. Dass das keine geldwerte Leistung ist, sondern sich die Unterhaltszahlungen nur nach dem hauptsächlichen Wohnort der Kinder bemessen, halte ich für grundsätzlich falsch.
Was halten Sie davon, Verstöße gegen das Besuchsrecht zu sanktionieren?
Den Frauen, die sich nicht wie vereinbart an das Besuchsrecht ihrer Ex-Männer halten, sollte sofort der Unterhalt gestrichen werden. In Frankreich ist das so. Bei uns haben die Mütter in der Hinsicht viel zu viel Macht. An der Stelle gehört die Mütterhoheit vom Thron gestoßen. Ich weiß, dass das viele Gemüter erhitzen wird, aber hier geht es nicht um Schuldzuweisung, sondern ich sehe die Folgen der Vaterentbehrung. Sie fällt uns gesellschaftlich massiv auf die Füße. Es gilt mittlerweile als erwiesen, dass Kinder zunehmend ein unsicher-vermeidendes Bindungsverhalten zeigen. Solche Kinder suchen dann Halt in anderen Strukturen, in Cliquen, in Organisationen.
Und wenn ein Vater, aus welchen Gründen auch immer, seine Kinder gar nicht sehen will. Was dann?
Man kann niemanden dazu zwingen und man kann kein künstliches Interesse hervorrufen. Wenn jemand seine Kinder nicht sehen will, dann ist das zwar traurig, aber es ist eben so. Auch das muss kommuniziert werden. Aber diese Männer müssen sich darüber im Klaren sein, was sie da bei ihren Kindern anrichten.
Wie erklärt man so etwas seinen Kindern?
Sicher nicht mit dem Frust der Mutter. Sonst kommt dabei so etwas heraus, wie bei mir: Männer waren für mich lange Schweine, die immer ihre Frauen verlassen und ihre Kinder sitzenlassen. Andererseits übten sie eine unglaubliche Faszination auf mich aus und ich konnte es ganz lange nicht aushalten, ohne Mann an meiner Seite zu sein. Will ein Vater sein Kind nicht, dann schmerzt das natürlich. Aber indem man es wertfrei kommuniziert, hat das Kind die Chance, sich damit auseinanderzusetzen.
Wie kann man Vaterentbehrung heilen?
Man muss in die Vergangenheit schauen und sich dem stellen. Natürlich ist das individuell. Auch ich musste erst ein realistisches Vaterbild finden, es positiv füllen und es in mein Leben integrieren, dadurch hatte ich eine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. Bei mir war es so, dass ich einen unglaublichen Drang verspürte, meinen Vater zu sehen. Doch als es dann dazu kam, war das mehr als ernüchternd, weil die Ablehnung weiter bestand und besteht. Aber auch das war gut zu erleben, denn damit konnte ich endlich die Tränen weinen, die geweint werden mussten, konnte die Wut rauslassen und die ewige Suche aufgeben.
Und dann haben Sie eine Psychotherapie begonnen und die Büchse der Pandora geöffnet?
Ja, ich musste mich meinem Trauma stellen - und ich hatte die psychischen Reserven dafür, mich dem zu stellen. Aber ohne diese erneute Konfrontation mit meinem Trauma hätte ich nicht gesunden können.
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Jeannette Hagen, 48, lebt in Berlin und ist freie Autorin und systemischer Coach. Gerade hat sie ein Buch veröffentlicht: "Die verletzte Tochter. Wie Vaterentbehrung das Leben prägt", Scorpio Verlag, 16,99 Euro.